"Ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen". Das unfeine MdB Pofalla-Zitat gegen seinen Fraktionskollegen Wolfgang Bosbach (beide CDU) ging durch die Medien. Und lässt den Hörer mit vielen Fragezeichen zurück. Da haben sich die beiden CDU-Fraktionsmänner im Deutschen Bundestag über die Zustimmung oder Nichtzustimmung zur Eurorettungsschirm so richtig die Kante gegeben.
Deine Fresse - meine Fresse, beides weit weg von Demokratie |
Kalter Kaffee mittlerweile: das Krisenszenario hat längst das nächste Schreckenskapitel aufgeschlagen: Proteste in Griechenland, Massenentlassungen, Armutsgrenze erreicht, Wall Street besetzt, "Hebel" zur Potenzierung der Fonds wird bereits drei Tage nach Verabschiedung des Rettungsschirms in Deutschland diskutiert. Ein Wirrwarr an Ereignissen, das kaum mehr zu durchdringen ist.
Haben Sie sich mal gefragt, was Sie (!) persönlich alles in diesem Zeitraum an Veränderung erfahren haben?
Auch Gütersloh ist ein Erbhof
Das Phänomen der politischen Erbhöfe findet sich nicht nur im Deutschen Bundestag. Das existiert auch real hier in der Kommune: Das Durchschnittsalter im Rat der Stadt liegt bei rund 54,26 Jahre, das Profil ist männlich (rd.68 %) und zu 64 % akademisch dominiert. Im Kreis Gütersloh sieht es noch älter aus: der kommt im Durchschnitt auf 57 Jahre.
In unserer Studie Zimmermann/Knopp (nicht repräsentativ aber aussagefähig) haben wir ehemalige Ratsleute aus der Ratszeit zwischen 1984 bis 2009 befragt: Die jeweilige Verweildauer in den kommunalen Gremien ist demnach sehr eng an das Eintrittsalter gekoppelt. Je später der Mandatsträger in die Kommunalpolitik eingestiegen sind, desto länger bleiben sie dort aktiv. Gerade diese "Spätberufenen" sind es dann auch, die zu den "Sesselklebern" werden und weit über die sonstige Verweildauer von rund zwei Legislaturperioden im Rat bleiben. Wohlgemerkt, auf kommunaler Ebene dauert eine Ratsperiode fünf Jahre!
Setzt man das Durchschnittsalter in Bezug zur Verweildauer, kann man sich ausrechnen, mit wem der Bürger hier alt werden wird!
"Ich kann Deine Fresse nicht mehr sehen" bekommt vor diesem Hintergrund einen ganz anderen Charakter. Nämlich den, dass "alte Fressen" von demokratischer Kompetenz immer weiter entfernt sind und aufgrund der "Durchdringung" und "Verwobenheit" mit "dem System" kaum mehr neue Lösungen oder Wege, geschweige denn veränderte Bezugsgrößen erkennen können.
Von Island lernen
In Island übrigens hat man deutlich aus der Krise gelernt: Birgitta Jonsdottir, Mitglied im isländischen Althing, erklärt: auf dem open government barcamp 2011 in Berlin: "Wir hatten da vor zwei Jahren diese schöne Krise...." und haben das gesamte politische Personal, welches schon ewig im Parlament saß, aus dem Haus gejagt... Seitdem haben die Isländer ein neues Parlament gewählt. Hier darf man allerdings nur acht Jahre mitwirken.
Anke Domscheid-Berg, Gisela Erler, Birgitta Jonsdottir (Island) |
Krise haben auch wir genug. Veränderungen könnten jetzt beginnen. Wenn die Gewählten schon selbst erkennen, dass sie ihre "Fressen" nicht mehr sehen können... wird es Zeit.
Wen das stört, der soll sich halt selber engagieren. Dazu muss man, soweit ich fürs Lokale weiß, auch keiner Partei angehören (sachkundiger Bürger oder so). Ich bin froh, dass es ein paar Leutchen gibt, die sich an der Stelle engagieren, statt Tennisverein, Volkshochschulkurs oder Jazzclub. Für mich hat das auch was von Arbeitsteilung - ich habe einfach keine Lust, mir nach der Arbeit noch deren Unterlagen reinzuziehen und traue diesen Leuten einfach (notgedrungen? Nein, aus freien Stücken). Auch wenn ich mir in stiller Stunde mal einbilden mag, deren Business eventuell besser zu können - besser zu entscheiden, zu kommunizieren, zu streiten... was weiß ich nicht, was alles nötig ist, worum ich nach Feierabend aber keinen Politiker beneide.
AntwortenLöschenDass das nicht immer gutgeht, muss ich gegen meine eigene Bequemlichkeit in Kauf nehmen, und kann ich nur bei der nächsten Wahl ändern. Und selten kann ich mich, ehrlich gesagt, so entrüsten, dass ich meinen Standpunkt als berechtigter ansehen würde, als den mehrerer gewählter Vertreter. Wenn ich das bei anderen erlebe, frag ich mich ernsthaft, ob sie überhaupt bereit (vielleicht sogar fähig, aber wirklich willens?) sind, dafür gerade zu stehen, sich gegenüber dem Souverän mit ihrem Standpunkt als die bessere (besserwisserische) Alternative zu den Standpunkten gewählter Vertreter zu präsentieren. Letzten Endes sind die "alten Fressen" Spiegel unserer selbst.