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Dienstag, 7. Juni 2011

Mein Besuch im Sprachkurs, Teil 2

Individuelles Lernen

Im deutschen Schulsystem soll individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler Standard werden. Stärken fördern. Wenn wir dies als Ziel formulieren, dann gilt das für einen Sprachkurs für Menschen mit Migrationshintergrund ganz besonders: der halbe Erdball und seine Menschen sitzen hier am Tisch, Männer und Frauen. Keiner hat das gleiche Lerntempo wie sein Nachbar. Nicht einmal das Ursprungs-Alphabet ist gleich:
Neben mir sitzt eine junge arabisch-sprechende Frau. Ihr Wörterbuch liegt auf dem Tisch. Sie hat die „Wortschatzhitparade“ als Hausaufgabe ausgefüllt, damit lernt sie Vokabeln. Links stehen die deutschen Begriffe, rechts hat sie handschriftlich die arabischen notiert.
Die Wörter sind streng unterteilt, Nomen, Verben, Adjektive. Alle Begriffe stammen aus dem Alltag: Blume, Frieden, Planung, Garderobe – und Tod, stehen da. Bei den Adjektiven finde ich „streng, höflich, sozialkritisch“. Die Verben „anreden, widersprechen, küssen und husten“ warten noch auf ihre Übersetzung. Ich blättere selbst durch den Langenscheidt „Deutsch – Arabisch“ und bin beeindruckt. Ich müsste erst arabisch alphabetisiert werden, um diese Sprache zu lernen. Britta Thomas erklärt, wer hier im Kursus sitzt, lernt nicht nur deutsch: „Die Menschen hier bringen ihre gesamte Geschichte mit.“ Die Lehrenden konjugieren nicht nur Verben mit den Schülern, sondern fangen auch Heimweh auf, sprechen über Probleme mit dem Klima, dem deutschen Essen, über die Gefühlswelt, die hier alle kennen: wie etwa im neuen Land isoliert zu sein, den Verlust des sozialen Status zu erleben und manchmal auch die Wut, nicht dazuzugehören, obwohl die Anstrengung da ist. „Die meisten Menschen, die hier leben wollen, möchten so viel von der Kultur annehmen, wie sie vertragen können. Aber irgendwann kommt der Schock, dass sie im neuen Land „nichts“ sind“, so eine Teilnehmerin. Das geht allen so, egal wie unterschiedlich ihre Beweggründe für die Migration nach Deutschland sind: Familiennachzug, Kriegsflüchtlinge, Deutschstämmige etc. 
Die hohe Kunst des Vokabellernens

Areen, Kamila, Khairi, sie sprechen einen Dialog aus dem Lehrbuch über „Medien“ und stolpern über Vokabeln wie „Statistik“ und „Argumentationslinien“. Sie lassen sich nicht beirren und bemühen sich tapfer. Mittendrin klingelt ein Handy mit einer Melodie aus 1001 Nacht. Alle lachen. „Mit 300 Wörtern in der deutschen Sprache kann man sich im Alltag verständigen, aber dann nimmt man nicht an vielen Dingen teil“, so die Sprachlehrerin. „Zudem ist es in Deutschland auch möglich, mit der „Ein-Wort-Methode“ gut klarzukommen. Es gibt Stadtteile, da muss ich kein Wort deutsch können“, sagt sie.

Rollenproblematik: Erwachsene lernen eine Sprache neu
Wer also einen Sprachkurs besucht hat, muss auch die Gelegenheit haben und suchen, sich in der neuen Sprache auszutauschen. Das gelingt im Alltag, wenn man bemüht ist, mit deutschen Vokabeln auf der Zunge einzukaufen, seine Rolle wahrzunehmen, als Mutter, als Beschäftigte, als Nachbar. Aber die Gelegenheiten mit Deutschen zusammenzutreffen sind nicht so häufig gegeben. Einladungen fehlen in der Regel. „Die beste Möglichkeit mit den Einheimischen in Kontakt zu kommen, ist der Sport“, sagt Britta Thomas. Noch allerdings trauen sich die „Neuen“ noch nicht zu diesem Schritt. Sie bleiben erst einmal in ihrem Kurs zusammen. „Wir waren letztens auf der Sparrenburg. Und im Zoo“, erzählen Tofik und Ahmed. Ausflüge ins Land wie sie eigentlich Grundschüler machen, um ihren Horizont zu erweitern. Im Rahmen eines Sprachkurses für Anfänger tauchen Erwachsene notgedrungen in eine andere Rolle, mit der sie klar kommen müssen. „Ich möchte gern, dass mein Schulabschluss aus dem Ausland hier anerkannt wird“, sagt ein junger Mann, der als Flüchtling aus dem Irak hierhergekommen ist und erahnt, dass ein Besuch im Zoo eher niedlich aussehen muss.


Frau Merkel kann kein Türkisch sprechen
Anerkennung. Das ist das Ziel aller hier. Das erlebe ich auch im zweiten Kurs, den ich heute besuche. Hier sitzen zehn Teilnehmer, die gerade einmal knapp 60 Stunden Deutschkurs hinter sich haben. Die Kommunikation ist schon deutlich eingeschränkter. Hier zählen die Mimik, die Gestik, Zeichen des Verstehens. Die Lehrerin Anelia Taschner übt heute das Verb „können“. Es handelt sich um ein Modalverb. Ist eigentlich unerheblich, das zu wissen. Spannend wird es erst, als Frau Taschner folgende Erklärung dazu abgibt: „Stellen Sie sich vor, Frau Merkel reist in die Türkei zum Präsidenten“, beginnt sie. „Wer ist Frau Merkel?“, fragt sie in die Runde. Schulterzucken bei den Teilnehmern. Ich merke, dass das „Bild“ von Frau Merkel schon in den Köpfen ist, aber wie lautet der Begriff für ihre Funktion? „Sie ist die höchste Frau in Deutschland“, sagt eine Teilnehmerin mit türkischen Wurzeln. „Ja, genau“, lobt Frau Taschner, „wenn also die Bundeskanzlerin in die Türkei reist, dann hat sie meistens einen Übersetzer dabei. Denn Frau Merkel spricht ja kein Türkisch. Der Übersetzer kann aber erst dann anfangen zu übersetzen, wenn er in einem Satz mit dem Modalverb „können“ auch das Verb am Ende eines Satzes hört. So lange muss er warten. Wenn er also nicht spricht, heißt das nicht, er hat nichts verstanden, sondern er wartet. Das macht die deutsche Sprache so schwer.“ Finde ich einleuchtend. Jetzt üben alle die Stellung der Verben am Satzende „im Rahmen“. Beispiel: Ich kann heute nicht mir dir spielen.

Konflikte der Welt sitzen mit am Tisch
Neben mir sitzt eine junge Frau aus dem Irak. Sie ist erst seit vier Wochen in Deutschland. Sie strahlt mich an, weil ich ihr bei den Übungen mit „können“ helfe. Sie meldet sich rasch und versucht sich an der richtigen Aussprache. In der Pause versuche ich ein Gespräch zu führen, ein Mischmasch aus Englisch, Wörterbuch und Handzeichen. Ich frage sie nach „Geschwister“. Sie zeigt mit den Händen sieben. Ihre Schwester ist auch im Kurs. Sie sagt dann, „Vater nix da“. Und beide werden sehr traurig. Einen Moment lang herrscht Stille. Uns einen in dem Moment wohl die Bilder aus dem Irakkrieg: Sie haben sie erlebt. Ich habe sie im Fernsehen verfolgt…Was mit ihrem Vater passiert ist, bleibt unausgesprochen.


„Für viele Menschen, die hier deutsch lernen war Bildung in ihrem Heimatland nicht das Wichtigste. Dort hieß es Überleben. Morgens aus dem Haus gehen. Und abends möglichst lebend zurück zu sein. Mit diesen Erlebnissen sind wir hier jeden Tag konfrontiert“, sagt Britta Thomas. Für einen Moment ist die Erdkugel ganz klein. Ich kann die Traurigkeit der jungen Frau spüren. Das Mädchen neben mir ist gerade mal 18 Jahre alt. Und möchte trotz aller Erlebnisse einen neuen Anfang wagen. Dafür gebührt ihr Respekt und Anerkennung.


Im Sprachkurs ausprobieren
Frau Taschner fährt mit dem Unterricht fort: „Deutsch ist sehr kompliziert. Man muss ein gutes Gedächtnis haben, damit man nicht vergisst, was in dem „Rahmen“ steht“, beendet sie die Lektion um „Können“. Im Chor konjugiert der Kurs: Ich kann, du kannst….ich mache mit. Am Ende des Unterrichts werden noch typische Berufe erklärt. Die Lehrerin heftet dazu Fotos an die Pinnwand und fragt, wer was macht: Ein Koch kocht, ein Friseur schneidet Haare, eine Abteilungsleiterin… ja, was ist denn eine Leiterin? Und sie erklärt. Auch das gehört zum Erlernen von Sprache: Wo findet sich was und wie kann ich das erklären. All das muss gelernt werden. Auch das, was zum „Chefsein“ in Deutschland dazugehört.


Nach dem Stundenende beantwortet Frau Taschner Fragen nach Fahrtkosten, nach Beteiligungskosten an den Schulbüchern. Sie ist sehr streng und direkt. „Der Weg durch die Instanzen dauert, aber die Erstattung kommt auf jeden Fall“, erklärt sie. „In der Sprachschule müssen Erwachsene wieder wie Kinder lernen. Das verunsichert viele und erfordert eine Menge Anstrengung. Hier geht es nicht nur ums Lernen. Es geht auch um Vertrauen und um Individuen – jeder lernt anders. Jeder mit seinen eigenen Möglichkeiten. Die kann man nicht verordnen.“ In der Sprachschule gebe es einen Schutzraum, hier können die Teilnehmer Sprache und „deutsch sein“ ausprobieren. Fragen stellen, wie die Gepflogenheiten in Deutschland sind, erklärt Frau Taschner. „Draußen ist es sehr viel schwieriger. Da werden die Fehler in der Sprache gerne mal übersehen, aber ein Fehlverhalten, weil man die deutsche „Gepflogenheit“ nicht kennt, kaum.“

Einsichten und Fragen
Der Vormittag ist rasend schnell vergangen. Während die Schülerinnen und Schüler sich nun um ihre Hausaufgaben kümmern müssen und die Lehrenden den nächsten Tag vorbereiten, fahre ich nach Hause. Mit vielen neuen Eindrücken – und Erkenntnissen. Und dem Wissen, dass der Besuch eines Sprachkurses etwas ganz Persönliches ist. Dass Sprache und deren Gebrauch an sich Persönlichkeit ist. Dass die Sprachschüler mit Migrationshintergrund sich echt bemühen. Und dass Erfolge nicht von heute auf morgen plötzlich da sind. Und vor allem: Die Lehrenden in den Kursen machen einen guten Job. Mit viel Engagement und Herzblut. Sie sind wahre Kenner der (kulturellen, sprachlichen) Vielfalt. Diversitymanagement ist ihr eigentliches Geschäft – ein gefragtes Gut dieser Tage. Ob dabei auch die Bezahlung stimmt, ist sicher eine zu stellende Frage. Ich bin gespannt auf die Evaluation der Kurse. Messbarkeit ist dabei eine Sache. Aber der Faktor Mensch ist eine andere. Und vor allem: Integration ist keine Einbahnstraße. Es ist ein gegenseitiger Prozess. Dazu gehören zu gleichen Teilen die „Neusprecher“ und die, die Deutsch schon können.