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Sonntag, 5. September 2010

Eine Homage an das Scheitern

Kürzlich fragte Frank Plasberg seinen Gast Norbert Röttgen, Bundesumweltminister, nach seiner Vita: "Herr Röttgenm Sie gelten als sehr klug, werden scherzhaft sogar Mutters Klügster genannt - aber ein Scheitern kommt in ihrem Lebenslauf nicht vor. Wie kommt das?"

An dem Punkt bin ich wieder wach geworden. Hellhörig sogar. Was war das dann für eine Botschaft? Scheitern als positives Ereignis? Hat hier jemand Prominentes mal ein Ohr für Menschen, die in ihrem Leben nicht alles gelungen auf die Reihe bekommen? Bisher ist der Eindruck entstanden, diese Art Talkshows würden hauptsächlich von Erfolgreichen bestückt, von Menschen, die es "drauf" haben. Und damit Aushängeschilder sind, Messlatten und Vorbilder, an die der "normale Mensch" wie ich nicht heranreicht.

Was aber ist "Scheitern"? Und wann bekommt man den Beweis, dass man gescheitert ist? Scheitern bedeutet eigentlich ganz simpel, das Fehlschlagen eines Vorhabens. Nun kann man das ganze Leben ja als ein Vorhaben verstehen. Und da sind die Vorhaben leider nicht immer selbst ausgedacht, sondern folgen den allgemeinen Regeln einer Gesellschaft.
Nehmen wir da einmal das große Feld "Schule". Denn, seien wir mal ehrlich, Schule ist oftmals das Treibhaus allen Scheiterns. Jede oder jeder, den ich befragt habe, verbindet seine ersten Scheiter-Erlebnisse sekundenschnell mit der eigenen Schulzeit. Nur einigen passiert das Scheitern leider öfter als anderen. Schulversager werden sie genannt, Sitzenbleiber, "Abgestufte", wie es im Pädagogendeutsch heißt.
Solche schlechten Schüler, aus denen angeblich nichts wird, kommen selten unbeschwert in die Schule. Daniel Pennac beschreibt sie als Zwiebel. Mehrere Schichten aus Kummer, Angst, Sorgen, Grollm ungestillten Begierden, schmachvoller Vergangenheit, bedrohlicher Gegenwart und verbauter Zukunft stehen da plötzlich in der Klasse. Diese Baustellen des Lebens und der Persönlichkeit müssen erstmal bearbeitet werden, bevor die Kinder überhaupt lernen können. Die Köpfe und Herzen müssen erstmal frei werden.

Wenn aber die Schulglocke klingelt und sich das Lernvolk in den Klassenräumen wiederfindet, ist da umgehend ein gestecktes Klassenziel, welches es zu erreichen gilt. Im Rennen um Bildung waren die Anderen immer schneller als ich, sie rissen die Zielschnur immer schon ein, wenn ich noch über den Sinn der Fragestellung nachdachte. Ich habe mich immer gewundert, warum meine Klassenkameraden selten etwas hinterfragt haben, sich stets gefügig zeigten und den Anweisungen folgten. Ich dagegen fand Unterricht dann klasse, wenn ich Fragen stellen konnte - und Antworten bekam. Ich fand Schule immer dann spannend, wenn ich aus der Gemeinschaft ausscheren konnte, meinen eigenen Rhythmus fand und in Ruhe meine Aufgaben erledigen durfte. Mein Schnellschreiben habe ich mir deshalb antrainiert, weil derjenige, der am schnellsten mit dem Abschreiben von der Tafel ins Heft fertig war, nach draußen gehen durfte, um Wasser zum Tafelwischen zu holen. Klar, dass ich das ich oft am Wasserhahn stand.

Kindern ist schon früh klar, dass abweichendes Verhalten nicht gewünscht ist. Hier ist der Punkt, an dem die Gesellschaft sanktioniert. Schule sanktioniert. Sie fördert nicht. (Noch immer nicht durchgängig als Ziel.) Jedenfalls nicht die, die anders sind. Anders lernen. Damit fängt das Scheitern an. Die ersten Aufgaben werden nicht so gelöst, wie man sich das ausgedacht hat - und schon ist man draußen. Der Rechenweg ist nicht so, wie alle den gemacht haben - und schon steht eine schlechte Benotung in rot am Seitenende. Nein, eine Sonne darf auf dem Bild im Kunstunterricht nicht grün sein. Was zählt ist also das "geht nicht" - und geht nicht bekommt in der Regel schlechte Noten. Anstrengungen und Bemühungen werden selten erkannt. Andere Wege, anderes Tempo bleiben auf den Notenrängen ausreichend bis ungenügend. Querdenken endet oftmals im Klassenbuch.

Während das Gros der Schülerinnen und Schüler voranschreitet und sich im grünen Rahmen von eins bis drei der Zukunft nähern, haben die Vierer-bis Sechser-Schüler keine solche. Zukunft. Sie tragen statt dessen das unsichtbare Zeichen des "schwierig" bis "das wird nichts" auf der Stirn. Das kann man zwar nicht sehen - aber um so mehr fühlen. Es gibt viele dieser Art Schüler, die von der ersten bis zur letzten Klasse ohne das Vertrauen auf Zukunft durch die Schule gehen. Und das ist auch ein Lerneffekt: Es wird schnell zur inneren Überzeugung, zum fatalen Glaube, man sei zum Scheitern verurteilt. Am Anfang allen Scheiterns steht also die erlernte Selbsterkenntnis, falsch zu sein, es nicht zu schaffen. Dieser Glaube bleibt wie das Haus auf dem Rücken einer Schnecke bleibt.

Und dann kommt doch der Durchbruch: Ein Fünckchen, ein Gespräch, eine Aufmunterung. Ein Erkanntwerden. Eine Motivation. Wie viele Biographien handeln davon! Plötzlich wendet sich das Blatt und der Fluch ist durchbrochen. Neues tut sich auf. Kreativität entsteht. Der eigene Weg gelingt auf wundersame Weise. Wege und Möglichkeiten zeichnen sich ab. Und der Erfolg stellt sich ein. Erfolg durch fördern?!

Eines bleibt jedoch ein Leben lang: Das Wissen um den Schmerz des Scheiterns. Um die tiefe Kränkung. Um den Kampf, des dennoch zu schaffen. Um Disziplin gegen sich selbst, um das tiefe Glücksgefühl, am Ende doch durchgehalten zu haben. Das aber bleibt ein Geheimnis, welches nur Scheiterer unter sich erkennen können. Den Gewinnern ist diese Quelle auf ewig versagt. Eine Lebenserfahrung, die ich nicht missen möchte und die am Ende stärkt. Mutters Klügster wird sich wahrscheinlich kaum über dieses Lob freuen können - Klügster. Er kennt als einer ohne Scheitern wahrscheinlich nur Licht. Die Scheiterer aber, die haben den Regenbogen gesehen, der aus tiefster Nacht emporsteigt.

Scheitern in der Schule, auch Thema im WDR 5:

http://www.wdr5.de/fileadmin/user_upload/Sendungen/Dok5_das_Feature/2010/August/Manuskripte/08_29_Geheimnis_des_Misserfolges.pdf