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Freitag, 15. Juli 2011

Flüchtiger Rohstoff: Bürger

Es handelte sich um den Versuch, die damalige Monarchie in Schach zu halten.... Ein Blick in die Geschichtsbücher macht deutlich, dass Demokraten immer schon einen steinigen Weg gehen mussten.

...und ihn noch nicht verlassen haben. Zumindest ordente die Kämmerin der Stadt im Hauptausschuss am 4.7. 2011 nochmal ein, dass der Bürgerhaushalt ein reines Konsultationsverfahren war. Will heißen, die Bürger schlagen vor - der Rat entscheidet am Ende. Von Anfang an war allen klar, wer das Sagen hatte: die Politik. Dennoch haben viele Bürger mitgemacht - ohne gleich das Rathaus stürmen zu wollen. Es ist also nicht einmal an der Konstitution der Repräsentativität gerüttelt worden.

Bauschmerzen mit Loslassen 
Der Großteil der Politik jedoch hatte wohl von Anfang an Bauchschmerzen mit der "Einbindung der Bürger". Es scheint einzig den Kommunalwahlen von 2009 geschuldet, dass eine Entscheidung für einen Bürgerhaushalt im Rat zustandegekommen ist. Der Druck von der Straße war zu groß für eine Absage - ein Nein hätte Stimmen gekostet. Das Bauchgefühl der Verlustangst von Entscheidungshoheit hat die Verantwortlichen von CDU, BfGT, UWG und FDP aber offensichtlich nie verlassen.
Bürgerbild: potenziell kriminell...
Nach dem Schlagabtausch über die Fortführung des Bürgerhaushaltes im Hauptausschuss kam nochmal deutlich zu Tage, welches Bürgerbild da in den Politikerköpfen spukt: Bürger sind etwa Kriminielle, die sich als Externe unberechtigt anmelden, mehrfach sogar, und anonym! Krude Beschimpfungen fänden dort statt (da muss man erstmal die Ratsprotokolle lesen oder auf der Tribüne sitzen....), Dopplungen der Vorschläge zuhaufe, Vorschläge, die Unkenntnis verraten; Vorschläge, die die Politik schon längst real mache..... Postuliert wurde "die Demokratie darf nicht dem Zeitgeist des Internet geopfert werden" sowie "der Bürger solle sich zukünftig besser wieder an die Parteien richten, die Stammtische besuchen oder die Bürgersprechstunden: die Kommunalpolitiker würden sich der Sache des Bürgers annehmen.

Schön auch: Man müsse mit offenem Visier kämpfen. "Der Bürger erwartet von uns ein Gesicht", hieß es. "Dann erwarten wir das auch vom Bürger."Schade nur, wenn wie gesagt ein Fünftel der Ratsleute über den Top 1 des Bürgerhaushaltes geheim abzustimmen beantragten. "Man habe keinen Bock auf Beschimpfungen" als Aussage eines Mandatsträgers klingt da ungewollt komisch.

Warum sperrt sich die Politik etwa gegen Anonymität ? 
Weil durch die Anonymität die wichtigste Kundschaft der Politik wegbleibt: der Bürger. Parteien wollen Wähler an sich binden. Das geht am besten, in dem sie Themen besetzen. Die Urheberschaft für Themen für sich in Anspruch nehmen. Und am besten gleich die Personen mit vereinnahmen, die diese Themen mitbringen. Das funktionierte bisher im alten Stil wie oben beschrieben: kommt in die Fraktionen, kommt zum Stammtisch, wir werden es richten.
Bürgerhaushalte aber ticken da anders, besonders, wenn sie Anonymität ermöglichen. Das hatte sich die Politik sicher anders vorgestellt.  Es ist ein Bruch in der herkömmlichen politischen Arbeit: "Mit wem spreche ich?", steht nicht mehr im Zentrum, sondern "über was" spreche ich. Damit ist eine andere Qualität der politischen Responsivität gefragt. 

Ohne Bürger keine Politik

Zudem werden Themen durch Parteien gesetzt, instrumentalisiert und wahltaktisch eingesetzt. Werden nun die Themen anonym durch Bürger selbst eingestellt, steht die Sache im Vordergrund. Der Bezugspunkt Bürger bleibt unsichtbar. Eine Vereinnahmung seitens der Politik wird schwieriger bis unmöglich. Die Handlungsfähigkeit der Bürger und der Druck durch die Bürger aber wird gestärkt und konzentriert. Zudem fällt damit die Filterung der Themensetzung durch wenige Mittelsmänner weg. Das kann streng genommen nicht im Interesse der Parteien sein.

Flüchtiger Rohstoff: Bürger
Der Bürger als Zielgruppe, als Kunde, ist das Kernstück der Parteiendemokratie. Wenn sich dieser Rohstoff verflüchtigt, hat das politische Wirken kein Ziel mehr. Immer mehr Bürger wollen sich zwar beteiligen, finden aber offensichtlich dazu in den Parteien keine Heimat mehr. Vor dem Hintergrund, dass allein sieben Fraktionen im Rat der Stadt Gütersloh vertreten sind, scheint das politisch Angebot dennoch nicht ausreichend zu sein, um sich vertreten zu fühlen. Das ist ein Phänomen auch außerhalb der Stadt Gütersloh. Trotz vieler Splitterfraktionen in den Räten bilden sich Initiativen, die ihr Interessen selbständig formulieren. Bürger organisieren sich anders. Sie organisieren sich selbst. Und zunehmend virtuell. Und zunehmend anonym. Damit hinkt die Parteienlandschaft ihrem verfassungsmäßig verankerten Auftrag der Mitwirkung an der politischen Willensbildung hinterher. Zumal die Aktiven im Netz oder in einer Initiative für die Mitarbeit in den Parteien nicht mehr zur Verfügung stehen. (Das wäre ein eigenes Thema, bedenkt man, dass sich alle Parteien mit der Mitgliederwerbung und grundsätzlich mit dem Mitgliederschwund beschäftigen.)

Kultureller Wandel
Der Stil des Festhaltens an alten Zöpfen ist auf lange Sicht kaum mehr haltbar. Hier und da blitzt schon ein kultureller Wandel auf: 1. Der Weg zu mehr Sachorientierung. Ein gutes Beispiel für eine zielorientierte politische Diskussion war offensichtlich die zur PID im Deutschen Bundestag. Hier war der "Fraktionszwang" aufgehoben, die Abgeordneten an keine "Weisung" der Partei gebunden. Übrigens sind sie das nie, sie sind nur ihrem Gewissen verpflichtet, so sagt es Artikel 38 (1) Grundgesetzt. Warum hat gerade diese neue Diskussionskultur zu so viel positiver Rückmeldung geführt?
2. Der Weg zu mehr Transparenz: Etwa die Offenlegung der grundlegenden Informationen zu Großvorhaben, wie exemplarisch Stuttgart 21. Der Lerneffekt wird der sein, dass wahrscheinlich viele öffentliche Träger möglicher Großbaustellen in Deutschland nun genau überlegen, was sie tun, wie sie die Fakten kommunizieren und ob sie an den Bürgern vorbei agieren - und zu welchem Preis. 3. Der Rückzug aus der institutionellen Anonymität, dies etwa in Form der Rekommunalisierung der Energieunternehmen. Auch hier entstehen die ersten Bewegungen deutschlandweit.

Eine Revolution vor dem Schloss ist also vielleicht nicht mal mehr nötig, weil keiner mehr Interesse hat, in einem solchen zu wohnen......