Nach der Saarland-Wahl scheint inzwischen auch bei den Offlinern (man verzeihe mir an dieser Stelle diese Pauschalität; ausdrücklich ausnehmen möchte ich aber den parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Peter Altmaier) die Erkenntnis zu wachsen, dass man sich bei nächster Gelegenheit im Interesse der jeweils eigenen Wahlergebnisse doch mal Gedanken darüber machen sollte, von welchen Bürgern die Piraten eigentlich gewählt werden. Unwissenheit über Online-Dynamiken und ein von Panik und Verachtung geprägter Diskussionsstil verhindern aber bisher eine nüchterne Analyse der veränderten Parteienlandschaft durch Vertreter der etablierten Parteien.
Übertreibe ich an dieser Stelle?
Werfen wir doch kurz einen Blick auf die Beschimpfungen der politischen netzbasiert arbeitenden Aktivisten durch das Establishment. Aktivisten wurden bisher wie folgt tituliert (anbei eine sehr kleine Auswahl wörtlicher Zitate):
a) Wutbürger
c) tyrannische Massen (so FDP-General Döring in der Berliner Runde nach der Landtagswahl 2012 im Saarland)
d) am PC hockende Slaktivisten (Zuschreibungen sind inzwischen internationalisiert)
e) Narzissten
Diese Verunglimpfungen haben den Piraten in den vergangenen Monaten zu Recht eine steigende Unterstützung durch Wähler verschafft. Eine solche Wortwahl gegenüber den eigenen politikinteressierten Bürgern - die nicht etwa abseitige und extreme Positionen einnehmen, sondern sich konsequent gegen Diskriminierung, für Transparenz und Partizipation einsetzen - hat eine Demokratie bei aller Konkurrenz der Parteien untereinander nicht verdient. Dass diese Aggressivität aus einer Position der Schwäche und der Unkenntnis der Netzdynamik heraus vorgelebt wird, macht es zwar nachvollziehbar nicht aber tolerierbar.
Die Print-Community (allen voran taz, Spiegel und Emma mit dem vergeblichen Versuch, den Piraten das Etikett "frauenfeindlich" anzuhängen; eine Zusammenfassung dieser Debatte findet sich direkt im Piratenwiki) hat mit dem gleichen Unterton in das Bashing der Piratenpartei und -wähler eingestimmt. Daher stimmt es auch nicht verwunderlich, dass die Piratenwähler im nahezu gleichem Ausmaß von den etablierten Parteien und den Nicht-Wählern stammen - die Ablehnung solch ritualisierter Diskussionsverläufe scheint quer durch alle Bevölkerungs- und Bildungsschichten zu gehen.
Ergebnisoffenheit und fluide Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse sind scheinbar neue Perspektiven auf und in der Politik, die von einem großen Teil der politischen Akteure misstrauisch beäugt oder aber gar nicht verstanden werden. Es ist ja auch einfacher, die SPD als soziale (nunmehr seit etwa 140 Jahren), die Linke als auf Umverteilung bedachte, die Grünen als umweltorientierte, die CDU als bürgerliche (und die FDP als…?) Partei wahrnehmen zu wollen. Diese Zeit der parteipolitischen und dauerhaften Wahrheiten ist aber vorbei. Sich heute angesichts der globalen Komplexität auf Dauer auf die Seite einer Parteiwahrheit zu schlagen, bedeutet schon, einen gewissen Mut zur Einebnung der in der Realität existierenden Schattierungen von sachpolitischen Lösungen mitzubringen. Ergebnisoffenheit ist keine Schwäche sondern eine Stärke, da die Lösung nicht durch Parteibeschlüsse determiniert wird und damit im Ergebnis immer zu einer gegenüber der determinierten Entscheidung effizienteren Lösung führen wird.
Es scheint mir angesichts dieser pauschalen Zuschreibung negativer Eigenschaften, dass das bisherige Image Deutschlands als das auf Papier wiedergepiegelte Land der Dichter und Denker inzwischen zum Ballast wird. Die bisherige Fokussierung auf die Wahrheit und Erkenntnis, die sich nur auf gedrucktem und nach Druckerschwärze duftendem Papier wiederfinden kann, verstellt den Blick auf die Chancen und Potenziale papierloser (politischer) Arbeit.
In Skandinavien ist man weiter. Im Dezember 2011 hat die schwedische Regierung eine "ICT for Everyone - A Digital Agenda for Sweden" vorgestellt. Dort finden sich in der Zusammenfassung diese schlichten aber wahren Sätze der zuständigen Ministerin Anna-Karin Hatt, die den Vorteil der ICT sehr gut auf den Punkt bringen und offenbaren, wie weit wir hierzulande von einer Zukunftsperspektive entfernt zu sein scheinen:
"It will be possible for more service jobs to be done from home, raising quality of life, saving travel, time and money and reducing environmental impact. ICT can make democracy more accessible, even from someone’s kitchen table."
Während also die schwedische Regierung die unmittelbare Relevanz der demokratischen Aktivität selbst am Küchentisch als relevant sieht (und vor kurzem den nationalen Twitter-Account an seine Bürger übergeben hatte), verweist man hierzulande die Mitglieder der Piratenpartei erst mal darauf, dass diese die Spielregeln und Prozesse der Demokratie noch lernen müssten (hier sei als positives Gegenbeispiel die internetbasierte Verfassungsreform in Island genannt).
Es geht nicht darum, mit diesem Text einen Wahlaufruf in Richtung der Piraten zu formulieren; es geht vielmehr darum, Partei für die Demokratie und die verbrieften Rechte zur politischen Partizipation zu ergreifen, ohne dass man als politisch interessierter Bürger - unabhängig von der jeweiligen parteipolitischen Färbung - von gewählten Politikern mit Begrifflichkeiten in Verbindung gebracht wird, die einer konstruktiven politischen Debatte abträglich sind.
Neoliberalismus oder das sanfte Sterben der Demokratie
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