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Samstag, 5. März 2011

`Schuldigung, ich suche "Seeed"

Für Günter zum Frühstück:

`Schuldigung, ich suche "Seeed" 

Neulich war ich in einem dieser riesigen Elektronik-Megastores. Dort, wo die Schließfächer ganz winzig sind, die Sherrifs am Eingang im Gegensatz aber ganz riesig und sich in ihrer Arbeitskleidung dem roten Schriftzug des Konzernnamens angepasst haben. Nein, der mit dem Geiz war es nicht.

Ich war auf der Suche nach einer CD. Ein Geschenk. Stand auf meinem Zettel ganz oben, weil sich der Geburtstag des Sohnes meiner Freundin jährte und ich eben einen Tonträger mit Musik schenken wollte. "Seeed" sollte es sein. In der Musikabteilung angekommen, ragten vor mir die unzähligen Regale auf wie die Klippen vor dem Festland von Australien.

Spätestens beim Anblick dieser Vielfalt bekomme ich immer einen leichten Schwindelanfall: man hat keine Zeit und muss trotzdem etwas suchen, von dem man ganz genau weiß, dass man es nicht finden wird. Was hab ich denn für eine Ahnung, unter welcher Musiksparte sich "Seeed" einreiht? Keine. Und dann standen da auch noch unzählige andere Kunden im Laden - uns einte die Ratlosigkeit, das Suchen und das planlose Meandern zwischen den Reihen. An der Theke (ja, die gibt es auch noch) stand ein einziger Fachverkäufer, der deutlich in einem Alter war, dass ich davon ausgehen konnte, Seeed müsste ihm geläufig sein. Er war umlagert von einer Traube von Fragenden - und kopfhörertragenden "Reinhörern" auf Barhockern. Meine Chance auf  Beratung oder Hilfe sank auf Null.

Gerade wollte ich gehen. Da drehte ich mich nochmal zu ihm um und hörte mich sagen: "`Schuldigung, ich bin Analphabetin und suche Seeed. Können Sie mir helfen?"

Mit dem Kopfhörer am einen Ohr, die Hand am CD-Player schoss sein Kopf hoch. Er hatte mich gehört. Wie die übrigen Kunden auch. Sekunden lang stand ich wie in einem Spottlicht. Die Röte schlich sich ganz zart in mein Gesicht, ich zog die Augenbrauen hoch - und wusste nicht, was die Menge jetzt mit mir anstellen würde. Und siehe da: Der Musikfachverkäufer legte seine Arbeit nieder, kam um die Theke herum auf mich zu, legte mir seine Hand auf den Unterarm und sprach: "Kommen sie doch bitte mit, ich kann ihnen zeigen, wo die CD zu finden ist", und führte mich fort. Unter den Argusaugen der Hörenden, die mich mit großem Interesse und einer Spur Mitleid musterten. Ein Segen hatte ich meine schwarze TCM-(Tschibo)Mütze auf dem Kopf und einen dicken Schal um den Hals, so dass ein späteres Wiedererkennen unmöglich war.

"Sie sollten einen Kurs belegen, um Lesen und Schreiben zu lernen", bemerkte der junge Mann am Ende meines Armes. Er führte mich immer noch wie einen Blinden durch die Regale. Sehen konnte ich ja. Fühlte mich nun wie Günter Wallraff und achtete streng darauf, nicht aus der Rolle zu fallen, das hätte mir der freundliche Helfer echt übel genommen. Sekunden später hielt ich "Seeed" in der Hand. Eine von mehreren Versionen. "Ich empfehle ihnen diese", schnitt er meine nächste Frage ab und ich war froh, nicht Nicht-Lesen zu müssen. "Danke", brachte ich heraus. "Das ist nett, dass sie nicht lachen." "Kein Problem. Musik geht ohne Buchstaben." - Fand ich super: PISA mal andersherum. "Die Letzten werden die Ersten sein" geht auch.
Danke!