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Mittwoch, 6. April 2011

Wie eine Grundschule in einen Stadtteil strahlt

Ich war auf Dienstreise. Und bringe meine Eindrücke mit. Aus einer Grundschule in einer Stadt, die nur eine Zugstunde entfernt liegt: Dortmund. Was hat das mit Gütersloh zu tun?, könnte man fragen. Eine Menge, denke ich. Denn Schulpolitik wird auch in unserer Stadt gerade diskutiert. Problemlos ist Schule nämlich auch hier nicht - auch wenn wir hier vergleichsweise "gut behütet" zu sein scheinen. Daher hier meine Einblicke:

Besuch in der Grundschule "Kleine Kielstraße"
Es ist ein grauer Tag. Es nieselt als wir in der Kleinen Kielstraße ankommen. Wir besuchen heute die gleichnamige Grundschule „Kleine Kielstraße“ in Dortmund. Um uns herum ragen die Wohnsilos der „Nordstadt“ wie der Stadtteil hier heißt in den regenverhangenen Himmel. „Ein Problemviertel“, sagt uns der Taxifahrer. Aber das wissen wir schon.



Beton statt blau   Foto: St. Rother
Bilder zur Nordstadt kann man sich hier anschauen:
http://www.google.de/search?q=Dortmund+Nordstadt&hl=de&a...


Wir biegen um die Ecke auf den Schulhof ein. Ein einzelner Baum am Eingang ist mir ein Lichtblick. Und natürlich zwei Schüler, die uns die Tür öffnen. Ein Junge mit einer Zahnlücke lächelt uns an. „Guten Morgen“, sagt er. Wir treten ein und stehen im bunten Treppenhaus der mit dem Deutschen Schulpreis 2006 ausgezeichneten Grundschule. Was mir sofort gefällt und im Nu mein Herz gewinnt: Da stehen Zahlen auf den Treppenstufen. Auf der ersten Stufe rechts ist in gelb eine „eins“ aufgeklebt. Eine Stufe höher Links am Geländer geht es weiter mit „zwei“ – jetzt in rot. Mit dem Blick nach oben sehe ich „neun“ und „zehn“. Die Stufen ziehen sich nummeriert bis in den vierten Stock. So kann jedes Kind beim Treppenlaufen Zahlen „erklimmen“ – aufwärts und abwärts. Genial. Jedenfalls für einen zahlentraumatisierten Ex-Grundschüler wie mich.


Die Grundschule wurde 1994 gegründet. 85 % der Kinder haben einen Migrationshintergrund. Sie liegt eindeutig in einem Stadtviertel mit besonderem „Erneuerungsbedarf“. Heute sprechen wir auch von einem „sozialen Brennpunkt“. Im Wissenschaftsdeutsch spricht man davon, wenn Wohngebiete, in denen Faktoren, die die Lebensbedingungen ihrer Bewohner und insbesondere die Entwicklungschancen beziehungsweise Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen negativ bestimmen, gehäuft auftreten.“ (So beschreibt es der Deutsche Städtetag bereits 1979). In diesem Stadtteil leben die meisten Kinder.


Hier eine Spiegel-TV-Doku „Leben im Brennpunkt“:
http://www.spiegel.de/sptv/tvthema/0,1518,560711,00.html


Hier ein Filmbeitrag von COSMO TV zum „Arbeiterstrich“ in der Nordstadt
http://www.youtube.com/watch?v=uQwP7oAuxbg


Die Probleme im Stadtteil sind massiv. Und in diesem Umfeld heißt die Aufgabe, „Schule zu machen“, zu unterrichten und Kindern die Bildung mitzugeben, die sie für ihren Lebensweg brauchen werden. Um anzu-kommen in der deutschen Gesellschaft, um teilzuhaben. Die „Kleine Kielstraße“ ist aber längst mehr. Sie ist ein Lebensort für Kinder. Bei unserem Rundgang, den uns die Schule und vor allem die Rektorin Frau Schultebraucks-Burgkart ermöglicht, schauen wir in einzelne Klassenräume. Das ist ganz einfach, die Türen stehen weit auf. In einem Raum erleben wir, wie eine kleine Gruppe Kinder im Kreis sitzt und gemeinsam über „Werbung“ spricht – Farbe, Form und Text werden fachkundig analysiert und diskutiert.


Hinter dem Offensichtlichen liegt das Konzept der Schule: Die Schule setzt ihr Leitbild um, nämlich zukunftsorientiertes Lernen, professionelle Zusammenarbeit im Kollegium, Elternarbeit, ganztägige Betreuung und Öffnung zum Stadtteil. Von allem findet sich hier Anschauliches. Sei es die vielen „Themenkisten“ in denen die gemeinsamen Unterrichtsmaterialien auf ihren Einsatz warten, denn diese ziehen sich durch alle Fächer hindurch, verschwinden nicht nur in der Schublade eines Kollegen, sondern sind für alle da. In der „Lernwerkstatt“ ziehe ich die Kiste mit der Aufschrift „Römer“ heraus. Und finde Bilder vom „Forum Romanum“ und das damalige innovative Viaduktwesen der Stadt. Gesammelt wird weiterhin, in der Kiste ist noch Platz – es warten noch viele Kinder auf deren Einsatz.
In Kisten schlummert das Wissen    Foto: St. Rother
“Durch Hospitationen in Parallelklassen, durch gemeinsame Konzeption von Unterrichtsreihen, arbeitsteilige Erstellung von Wochenplänen und Unterrichtsmaterialien, Absprachen von Leistungsüberprüfungen, Festlegen von Anforderungs- und Auswertungskriterien und Überlegungen zur Weiterarbeit wird die Diskussion um Unterrichtsziele, Methoden und Leistungsstandards in Gang gehalten, werden Leistungen vergleichbarer, werden Qualitätsindikatoren definiert, wird Qualität weiterentwickelt. Die Arbeit des Jahrgangsteams wird nachvollziehbar im Jahrgangsordner dokumentiert, der am Ende des Jahres an die Kolleginnen weitergegeben wird, die dann in der Jahrgangsstufe arbeiten werden.“ Heißt es auf der Homepage der Schule.


Weiter geht es, wir erleben hautnah, was eigentlich „Öffnung zum Stadtteil“ bedeutet: In dem „Elterncafé“ treffen sich Frauen zum Integrationskurs. Heute sitzen hier die „Fortgeschrittenen“, nebenan nähen Mütter und lernen nebenbei deutsch. Beeindruckend ist das Konzept zur Einbeziehung der Eltern, lange bevor die Kinder überhaupt in die erste Klasse gehen. In Kooperation mit dem Stadtteilverein, der Stadt und dem Wohnungsbauunternehmen LEG wurde in der Schule das täglich geöffnete Elterncafé installiert. Das niederschwellige Angebot ermutigt Eltern, Fragen zur Schule unterhalb der offiziellen Mitwirkungsforen zu stellen. Hier findet sich auch Raum für Einzelfallberatung und an andere Unterstützungsformate. Es ist ein Hort für vielfältige Qualifizierung (z.Zt. Sprach-, Alphabetisierungs-, Computer-, Erziehungs- , Erste-Hilfe-Kurse und Schuldnerberatung).
Im Stadtviertel Nordstadt    Foto: St. Rother
Der Zugang zu schwer erreichbaren Müttergruppen, die weder Deutsch sprechen, noch lesen, schreiben, einen Stundenplan deuten oder Uhrzeiten erkennen können, wird erleichtert durch der gleichen Ethnie angehörenden Rucksackmütter aus dem „Pool“ ehemaliger, der Schule immer noch verbundener Mütter. „Hier geht es um klare Verantwortlichkeit: Alle Eltern wollen, dass aus ihren Kindern etwas wird. Die Aussage, „die interessieren sich nicht“, stimmt oft nicht. Es kommt auf die Ansprache an“, so Schultebraucks-Burgkart.


Das Schulprogramm und das pädagogische Konzept finden sich detailliert hier:
http://www.grundschule-kleinekielstrasse.de/


In der Diskussion am runden Tisch im Büro der Schulleitung streifen wir dann auch das Thema, Kinder in Deutschland würden „immer dicker“. Warum ist das so? Reflexhaft wird „Fast-Food“ zum Thema. Ein Grund allerdings ist noch viel realistischer: Viele Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr nach draußen. Weil sie Angst haben. Und diese Angst wird bei einem Rundgang durch den Stadtteil deutlich. Einen solchen Rundgang haben übrigens auch die Kinder der Grundschule gemacht. In einem eigenen „Angstecken-Atlas“ ist mit Fotos und eigenen Texten der Kinder dokumentiert, warum (!) sie an vielen Stellen in ihrer Lebenswelt diese Angst entwickeln: Verdreckte Stadtviertel sind ein Teil davon, Junkies auf den Spielplätzen ein anderer, der enorme Zuzug vieler bulgarischer Menschen aus dem Elendsviertel Plowdiw ist unübersehbar, der nahegelegene Straßenstrich ist ein weiterer Grund. (Der ist nun am 31.3.2011 mit großer Stimmenmehrheit im Rat der Stadt Dortmund geschlossen worden, ebenso wie der Sperrbezirk auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet wurde.)
http://www.dortmund.de/de/leben_in_dortmund/nachrichtenporta...

Der Besuch der Kleinen Kielstraße hat viele Aspekte gestreift. Ich könnte sehr lange darüber berichten, hier kann es nur einen kleinen Einblick geben. Der Besuch hat mich jedenfalls nicht kalt gelassen. Er zeigt ganz deutlich die Realität und den Alltag vieler Kinder in Deutschland. Eines ist auf jeden Fall hängen geblieben: Wenn Kinder in unserem Land unsere Zukunft sind, dann müssen wir uns als Gesamtgesellschaft noch ein wenig mehr anstrengen, soll diese Zukunft gut gestaltet werden. Dortmund-Nordstadt ist Realität. Ähnliches findet sich in vielen anderen Städten auch. Aber eben nicht nur. Dagegen stehen die vielen guten Konzepte. „Wir haben in Deutschland kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem“, resümiert die Rektorin.


Und in Gedanken greife ich das auf, was in der Schule im alljährlichen Demokratietag eingeübt wird: Die Werte einer Gesellschaft. Dazu gehört, dass die Kinder der „Kleinen Kielstraße“ die ersten Artikel des Grundgesetzes kennen und erklären können. In Artikel 3, Absatz 1 steht: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ In Absatz 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ An diesem Tag eint uns die Frage; Was wäre wohl aus uns geworden, wären wir in diesem Stadtviertel groß geworden?