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Samstag, 30. April 2011

Kriterien heute: Innovation / Mobilisierung der Bürgerschaft

Wie erfolgreich war das Verfahren zum Bürgerhaushalt?
Eine Analyse anhand eines Kriterienkatalogs

Kriterium 2 (von 14): Innovation
Innovation ist durch das Format des Bürgerhaushaltes gegeben. In Gütersloh ist ein solches Format breiter Beteiligungsmöglichkeit bisher noch nicht zum Zuge gekommen. Es war daher ein großes erstes Experiment, in dessen Folge sich die Trias Bürger, Politik und Verwaltung zunächst selbst in ihre Rolle einfinden mussten. Es ist Neuland beschritten worden, obwohl es Bürgerhaushalte in vielen anderen Städten gibt. Der Fokus allerdings liegt hier darauf, dass es Vorschläge Gütersloh-spezifischer Art gab, die andernfalls nicht gemacht worden wären. „Viele Augen sehen mehr“ kam zum ersten Mal organisiert zur Anwendung. Durch die Nutzung eines eigenes eingerichteten Online-Portals, mit Begleitung durch Zebralog/Fraunhofer Institut, war die Beteiligungsphase in der Online-Nutzung hoch professionell. Besonders innovativ zu bewerten ist dabei der offene Ansatz an sich: Die Online-Plattform sollte nicht nur „Sparvorschläge“ aufnehmen, sondern als Kanal für Anregungen, Ideen und auch Priorisierung von kommunalen Neu-Vorhaben gelten. Diesem offenen Anspruch ist die Plattform besonders gerecht geworden. Note: sehr gut

Kriterium 3 (von 14) Mobilisierung der Bürgerschaft
Die Mobilisierung der Bürgerschaft ist durch die Medienarbeit der Stadt (traditionell und online) sehr gut vorbereitet und durchgeführt worden. Die eher mäßg besuchte Eröffnungsveranstaltung der Stadtverwaltung in den Räumen der VHS zeigte, dass eine Online-Plattform eben keiner traditionellen Veranstaltungsformate als flankierende Maßnahmen bedarf, da die Bürgerschaft ihr Votum auch via Internet einbringen will und nicht zwingend real erscheint.

In der Startphase und der Aktionsphase (drei Wochen) berichtete die örtliche Presse sehr ausführlich und begleitend. Teilweise wurde auch kritisch berichtet, insbesondere, als die Thematik der „Feuerwehr und einer möglichen Nutzung durch Nicht-Gütersloher Bürger“ aufkam. Leider flaute die Frequenz der Berichterstattung in der Beratungsphase der Vorschläge in den Gremien stark ab, auch in der Bewertungsphase am Ende des Prozesses gab es sehr wenig Resonanz. Eine grundlegende Bewertung des Bürgerhaushaltes als Beteiligungsformat in der Öffentlichkeit fehlt, da sich bisher lediglich die Stadtverwaltung und die Politik dazu geäußert haben - nicht aber die Bürgerschaft selbst. Eine Befragung hätte sich anschließen müssen. Gelungen ist es allerdings, die Interaktion innerhalb der Bürgerschaft zu ermöglichen, die ansonsten überhaupt an keinem eigenes dafür geschaffenen Ort stattfindet. Die Politik hat an dieser Stelle insgesamt am schlechtesten abgeschnitten, da ihre Informations- und Mobilisierungspolitik eher zufällig und wenig informativ war, was Veranstaltungen, Online-Infos oder Aufrufe anging. Note: befriedigend

 Morgen mehr: Transparenz / Verbindlichkeit der Vorschläge

Donnerstag, 28. April 2011

Wie erfolgreich war das Verfahren zum Bürgerhaushalt?

Eine Analyse anhand eines Kriterienkatalogs

Gemeinsame Problemlösung für die Zukunft
Meine deutliche These vorweg: Beteiligungsverfahren sind aus der politischen Kultur unseres Landes nicht mehr wegzudenken. Seit ihrem Entstehen in den frühen 70er Jahren und der Weiterentwicklung in den letzten Jahrzehnten stehen wir heute vor immer differenzierterer und sogar gesetzlicher Verpflichtung dazu.

Neue Formen des Dialogs auf Augenhöhe sind gefragt. Es geht um den gemeinsamen Diskurs. Erörterung von Sachfragen und die Problemlösung stehen im Zentrum künftiger Zukunftsfähigkeit. Die hohe Komplexität in unserem Leben macht neue Formen der Begegnung und der Entscheidung notwendiger denn je. Am Anfang eines solchen Prozesses steht meistens ein deutlich umrissenes und definiertes Problem. Etwa ein Haushaltsdefizit, also Finanzloch, in einer Kommune.

Nicht nur ein Kriterium für den Erfolg
Diese Situation war auch der Beweggrund für Gütersloh, neue Wege in der Haushaltspolitik zu beschreiten. Die Genese des Bürgerhaushaltes soll hier nicht wiederholt werden, sie liegt zwischen Zwang durch Bürgerproteste bis hin zum stets geäußerten Zweifel an der Richtigkeit eines solchen Verfahrens und dem ausdrücklichen Wollen der Verwaltung. Nur so viel sei in Erinnerung gerufen, dass das Verfahren, also der Ablauf zum Bürgerhaushalt an sich (inklusive einer zu erstellenden Liste der Top 30 Vorschläge) von allen Fraktionen im Finanzausschuss (!) abgesegnet wurde. Welche konkreten Kriterien für ein Gelingen erfüllt sein müssten, wurde im Vorfeld aber nicht ausreichend geklärt. Daher ist in Gütersloh zu Beginn des Verfahrens leider nur ein Kriterium stillschweigend zugrunde gelegt worden, ohne dass sich die Beteiligten real darauf geeinigt hätten: die Quote der Beteiligung. Die Marge der Beteiligungsquote anderer vergleichbarer Städte von rund 1,5 bis 2,0 Prozent galt als Messlatte für das Gelingen des Bürgerhaushaltes in Gütersloh. Dieser Wert speiste sich jedoch eher aus den Erfahrungswerten des begleitenden Partners Zebralog/Fraunhofer Institut als dass er selbständig von den politisch Verantwortlichen in der Stadt „gesetzt“ worden wäre.

Erreicht wurden in Gütersloh am Ende 1,7 Prozent Beteiligung. Diese Quote allerdings wurde schon während des Verfahrens und auch im Nachklang durch Teile der Ratsfraktionen mehrfach in Zweifel gezogen. Daran gekoppelt schwang daher bereits zum Ende des Online-Verfahrens auch immer schon die Frage mit, ob das Verfahren eine Wiederholung finden würde.

Gemeinsamer Kriterienkatalog ist notwendig
Um nun am Ende einen gemeinsamen Diskurs über das Verfahren führen zu können und eine abschließende Bewertung zu ermöglichen, bedarf es der Spielregeln, die allen Beteiligten bereits von Anfang an deutlich sind - und die von allen akzeptiert werden. Beteiligung braucht also Kriterien, anhand derer am Ende für alle messbar ist, ob und wie Beteiligung effektiv war. Das Zugrundelegen eines einzelnen Kriteriums für das Gelingen oder Scheitern eines Bürgerhaushaltes jedoch verengt die Möglichkeit der Bewertung deutlich. Viele Aspekte eines Beteiligungsverfahrens geraten dabei aus dem Blickfeld. Diese zusätzlichen Aspekte aber sind notwendig, um die Komplexität eines solchen Verfahrens ablichten und bewerten zu können.

Jetzt steht die Stadt also am Ende dieses ersten Bürgerhaushaltes. Die Frage der Bewertung steht im Raum: Ist er gelungen oder nicht?

Kriterien der Bewertung
Folgende zusätzliche Kriterien könnten daher für die Bewertung herangezogen werden (siehe dazu auch: Kubicek, Herbert, Lippa, Barbara und Koop, Alexander: Erfolgreich beteiligt? Nutzen und Erfolgsfaktoren internetgestützter Bürgerbeteiligung, Gütersloh 2011, Verlag Bertelsmann Stiftung)

  • Ressourcen / Kosten
  • Innovation und Professionalisierung
  • Mobilisierung
  • Transparenz
  • Verbindlichkeit
  • Repräsentativität
  • Nutzerfreundlichkeit
  • Qualität der Beiträge
  • Zufriedenheit der Nutzer
  • Akzeptanz
  • Anschlussfähigkeit
  • Erhöhung der Demokratieeinstellung
  • Nachhaltigkeit
  • Effizienz

Kriterium 1 (von 14): Kosten und Ressourcen
Die Kosten respektive die bereitgestellten Ressourcen von 70.000 Euro für die Online-Plattform sind immer wieder in die Kritik geraten. Dem gegenüber stehen jedoch die 164.000 Euro, die der Rat der Stadt dem Beratungsunternehmen Rödl&Partner für die Unterbreitung von Haushaltskonsolidierungsvorschlägen 2008 gezahlt hat. Diese Gelder wurden zudem im nicht-öffentlichen Teil der Gremien abgestimmt. Es gilt also abzuwägen, was politisch höher zu bewerten ist: die Vorschläge von der „Stange“ eines Beraters, die es hundertfach gleich gibt oder aber die breite Einbeziehung der eigenen Bevölkerung, die ihr Wissen und ihre Kenntnisse der Stadt in den Prozess mit einbringt? Zudem gilt hier, politisch zu bewerten, was mehr zählt: die hohe Legitimation von Entscheidungen durch die eigene Bürgerschaft oder das Know-how Externer, deren Ergebnisse große Proteste ausgelöst haben - bis hin zur Demonstration gegen Kürzungen im Bildungsbereich vor dem Rathaus. Ressourcen wurden darüber hinaus aus der Verwaltung der Stadt bereitgestellt, so zeigte sich die Betreuung der Online-Phase als eine Querschnittsaufgabe der gesamten Stadtverwaltung mit den jeweiligen Fachbereichen im „backoffice“, die den Moderator (Zebralog/Fraunhofer Institut) bei seiner Arbeit effektiv unterstützt hat. Die Verwaltung hat sich mit der laufenden fachlichen Aufnahme der Vorschläge als ein Sparringpartner gezeigt, der zwar Grenzen aufgezeigt hat, wenn die Handlungshoheit der Stadt überschritten wurde, aber auch Hinweise zur Konkretisierung aus allen Fachbereichen liefern konnte. Note: sehr gut

Morgen geht es weiter mit Teil 2: Kriterium 2 und 3.

Dienstag, 26. April 2011

Meine Antwort auf die Replik Kornfeld - Tadel wegen Fragenstellen

Heute: Meine Antwort auf die Replik von Siegfried Kornfeld auf meine Argumentation "Pro Anonymität beim Bürgerhaushalt"

Sehr geehrter Siegfried Kornfeld,

vielen Dank für die ausführliche Replik gegen meine Argumentation für die Anonymität beim Bürgerhaushalt. Gerne nehme ich dazu Stellung. Vorweg allerdings dies: Beim Lesen begleitete mich fortwährend das Gefühl, unterschwellig tadelst Du eigentlich mich mit dem Vorwurf: „Du darfst nicht einfach etwas in einem Blog schreiben und veröffentlichen.“ Doch, lieber Siegfried, das darf ich. Und ich muss Dich nicht erst fragen, ob ich das darf. Deine Haltung erinnert mich an die Gattung „moralinsaure Zeigefinger der Gutmenschen-Fraktionen“. So eine Blogseite wie meine trage dazu bei, meinst Du, das Bild der „Kaste der Politiker“ wie es an Stammtischen oder unter sonstigen Fußkranken der Staatsbürgerkunde gepflegt wird. Das ist eine Frage des Glaubens, meine ich. Während Du seit nunmehr 25 Jahren Rats- und Funktionärstätigkeit in der Politik hinter Dir hast, was an sich schon gegen Demokratie spricht, und damit dem „System Politik“ angehörst, stelle ich einfach nur Fragen an das politische System. Und stelle fest, dass es an vielen Ecken nicht mehr aussagefähig ist – eine davon ist die Frage nach Bürgerbeteiligung. Die ist eindeutig noch nicht abschließend beantwortet. Fragen zu stellen ist allerdings ein Akt der Freiheit, hat mit Stammtisch wenig zu tun, wohl aber mit dem Suchen nach Verbesserungen. Und dass ich dabei nicht in den Dialog getreten bin, ist falsch. Unsere Treffen der Bürgerinitiative waren stets öffentlich, Dich habe ich allerdings keinmal dort angetroffen, während die Initiative immer den Weg in die Fraktionen gefunden hat. Für Demokratie muss man aus dem Haus gehen, meinst Du und es gehöre die „Rede“ dazu sowie die Begegnung der realen Menschen und man müsse sich an seinen Forderungen messen lassen.

Repräsentativ: Zustand glorifiziert
Du schreibst „Wer größere Bürgerbeteiligung sucht, in der Form aber repräsentative Anteile der Bürgerschaft von einer Beteiligung ausschließt, begibt sich in Widersprüche.“
Hinzu kommt die Kritik, Bürger würden ihre demokratische Bringschuld nicht einlösen.
Einerseits ist die Gefahr einer digitalen Spaltung der Gesellschaft vorhanden. Allerdings spricht dem entgegen, dass kein Medium an sich, so schnell und direkt erreichbar ist, wie der Zugang zum Netz. Die Allgegenwart des Netzes, das es jedem ermöglicht, sich schnell und unbürokratisch in Prozesse einzuklinken, beginnt ein breites Bedürfnis nach aktiver Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zu erzeugen. Diesen Zugang mehr Menschen zu ermöglichen, könnte daher sogar Gegenstand entsprechender Sozialleistungen werden, meint dazu Prof. Peter Kruse bei seiner Anhörung in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ im Juli 2010.
Ferner stehen wir vor dem Fakt, dass in der bisherigen Politiktradition die Bürger seit Jahrzehnten auf Distanz gehalten wurden und höchstens zu Wahlzeiten ihr Kreuz für eine Partei machen konnten. Die Politikvermittlung zwischen den Wahlen tendierte gen Null. Es gab de facto kaum institutionalisierte Formate des Austausches, des Dialogs zwischen den Regierenden und den Regierten. Es gab und gibt ein extremes Defizit der Information der Regierenden an die Regierten. Es gibt ein extremes Defizit der fortlaufenden Einbindung in Entscheidungsprozesse. Und: Durch die Wahl wurden die Gewählten in eine „höhere Sphäre“ katapultiert. Zudem entwickeln sich die Gewählten immer mehr zu Teilen des Staatsapparates selbst, den sie doch eigentlich kontrollieren sollen. Ferner werden ganze Bereiche der Restbeteiligungsmöglichkeiten aus den Gemeindebelangen ins Unerreichbare verschoben, d.h. sie entziehen sich dem Zugriff der Gestaltung durch die Bevölkerung.
Bürger wollen aber mehr. Sie wollen informiert werden, sie wollen diskutieren, sie wollen Alternativen aufzeigen und ggf. vorhandene Möglichkeiten bewerten – und dann darüber abstimmen. Viel Bürger haben erkannt, dass es um IHRE Sache geht. Das ist der Kernpunkt von Demokratie. Im Netz formieren sie sich als Gemeinschaft, sie lassen sich durch die Politik nicht mehr in Einzelbürger zerlegen, denen in Folge schnell das Vertreten von Partikularinteressen vorgeworfen wird, ein stereotypes Killerargument der Politik gegen die Bürger. Aber genauso will es die Politik.
Nach dieser Tradition muss man sich nicht wundern, wenn sich die Bürger erstmal nicht mehr trauen, selbst zu denken, selbst zu fragen, selbst zu agieren. Daher braucht es dieser Zeit dringend wieder demokratische Übungsplätze. Übungsplätze, Mut zu entwickeln, den eigenen Sachverstand einzusetzen: Demokratischen Verstand und Habitus zu lernen, indem man Demokratie übt. Das ist die Hauptrichtung notwendiger Reformen. (Siehe Prof. Roland Roth et alii in: Die verstockte repräsentative Demokratie – Für eine Demokratisierung von unten, März 2011)

Netzkontrolle heißt Zensur
Streng genommen bedarf es einer neuen Radikalität, eines zivilen Ungehorsams, einer selbstbewussten Inanspruchnahme der neuen Möglichkeiten, sich einzubringen – ohne auf die Zustimmung der Gewählten zu warten. Mit dem Bürgerhaushalt ist nun sehr mutig ein erster Schritt dahin gemacht. Die digitale Form des Gütersloher Bürgerhaushaltes ist gewählt worden, um den Prozess der Beteiligung und der Entscheidungsfindung zu rationalisieren, schreibst Du. Das ist zum Teil richtig, denn hiermit hat das neue Medium Netz Einzug gehalten. Was nur eine Frage der Zeit war. Dieses Medium allerdings so formalisieren zu wollen, dass es der alten Tradition der Politik entspricht, ist anachronistisch und – verkennt die Realität. Das Internet ist ein sich selbst organisierendes System, der Versuch einer Steuerung oder der Kontrolle ist prinzipiell zum Scheitern verurteilt, so u.a. Prof. Kruse. Auf den Bürgerhaushalt übertragen heißt das: Es geht nicht darum, die Bürgervorschläge zu vereinheitlichen, personenscharf zu machen, in kleine Portionen zu verpacken, wieder den Einzelnen in den Fokus zu rücken. Sondern es geht darum, dass die Bürger mittels Anonymität erst einmal wieder Mut schöpfen, sich überhaupt einzubringen, sich zu erproben. Hier ist die Chance entstanden, sich zu einer größeren, wirkungsvollen Masse zusammenzuschließen, um dem eigentlich anonymen Gegenpart „Politik“ und einer bis dato eher intransparenten Informationspolitik gegenüber zu treten. Ein Herausfiltern Einzelner und anschließender Sezierung kann damit nicht gelingen. Bis dato war die Strategie, das „Volk“ in Einzelbürger zu verwandeln sehr erfolgreich. Mit dem anonymisierten Nutzen der Technik jedoch ist aus dem Volk wieder das geworden, was es ist, eine große Menge unbestimmbarer Einzelteile. Ein Schwarm, dem eigene Intelligenz innewohnt. Die einzige Chance, diese Energie für kurze Zeit zu unterbinden ist der Eingriff über Zugangsbeschränkungen, Indizierung oder auch: Zensur.
Es bleibt zu vermerken, dass das Medium nicht durchgehend anonym genutzt wurde, sondern viele haben sich bereits namentlich angemeldet, keiner wurde daran gehindert. Wenn nun rund 1.700 Nutzer das Portal für sich entdeckt haben, dann ist das eine deutliche Aussage für den Wunsch, sich einzubringen und auch der Wunsch nach der Möglichkeit der Anonymität. Solange die Übungsphase der neuen demokratischen Beteiligung noch nicht abgeschlossen ist, ist daher an der Anonymität festzuhalten.

Anonymität längst Alltag
Diese Praxis der Anonymität wird übrigens von vielen Teilen auch der Gütersloher Politikprominenz durchaus angenommen und goutiert: In Facebook haben viele einen eigenen Account und teilen jedem (teilweise auch anonymen) Interessierten so gerne mit, auf welchem Flughafen man sich gerade befindet, welchen Ortsverein man gerade besucht hat oder an welchem Grünkohlessen man teilnimmt. (Siehe dazu hervorragend der Blogbeitrag vom 24. April 2011 von OleWintermann, Globaler Wandel)

Und selbst die bundesweiten Qualitäts- und Leitmedien setzen heute auf anonyme Informationsquellen wie Blogbeiträge und Videobotschaften. Diese neuen Formen sind sogar zu bahnbrechenden Katalysatoren geworden, den gesamten nordafrikanischen Landstrich zu demokratisieren. Von Wikileaks will ich gar nicht erst schreiben. Anonymität sind dabei Prädikatsfaktoren: Es geht nicht mehr um Personen, sondern um Inhalte.
Hier aber schreibst Du, die Einträge der Anonymen im Bürgerhaushalt hätten keine Legitimation und die Teilnehmer wären nicht repräsentativ. Das hat auch keiner behauptet. Im Gegenteil, es wurde offen kommuniziert, vor allem von der Politik, die von vornherein dargelegt hat, die Vorschläge seien nicht bindend. Allerdings müsste die Menge der Vorschläge ein Zeichen sein dafür, dass sich die Gütersloher Bevölkerung GEDANKEN macht.

Deutungshoheit verschiebt sich Richtung Bürger
Keine andere technologische Innovation hat eine vergleichbare Durchdringungsgeschwindigkeit und Alltagsreichweite gehabt, wie das Internet. Die emotional geführte Debatte dazu ist dann auch eine Frage, in welcher Phase der persönlichen Bewältigung des Neuen sich der jeweilige Protagonist befindet, sagt Kruse, selbst Jahrgang 1955. Es ist an der Zeit, deutlich zu machen, dass sich mittels Nutzung dieser neuen Online-Formate eine deutliche „Machtverschiebung“ ergeben hat. Die naturgemäß diejenigen schmerzt, die diese vorher inne hatten. Nicht mehr die Sender bestimmen, sondern jetzt sind es die Empfänger, diejenigen, die die Resonanz erzeugen können. Die Möglichkeiten hier werden immer wieder mit dem „Schmetterlingseffekt“ aus der Chaostheorie verglichen, nach dem Motto „kleine Ursache – große Wirkung“. Dieses Phänomen gab es auch beim Bürgerhaushalt, als ein Feuerwehrmann offenkundig mit einem Eintrag eine ganze Hierarchie einer Organisation in Frage gestellt hat, die sonst nur in kleinen Kreisen zu Sprache gekommen wäre.

Neues Politikverständnis
Ohne Experimentierfreude würde sich Demokratie nicht weiterentwickeln. Dazu gehört auch die Überwindung der Angst in der Politik vor unvorhergesehenen Ergebnissen, vor Verlust der alleinigen Deutungshoheit von komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen, die die Politik längst alleine nicht mehr bewältigen kann.

Du jedoch nimmst grundsätzlichen Bezug auf das antike Politikverständnis, Du schreibst, man müsse sich auf die Ursprünge besinnen, um dem Nebel der Gegenwart begegnen zu können: Das System der Politik beruhe auf der Vorherrschaft des gesprochenen Wortes über alle anderen Instrumente der Macht. Du bemühst das Logos in der Form der vernünftigen Rede. Es bedürfe auch eines Publikums, an das sich das gesprochene Wort als seinen Richter wendet. Diesem aristotelischen Standpunkt sind etliche philosophische Diskurse gefolgt und auch vorgelagert, die die Redekunst sehr kritisch hinterfragen. Zunächst gilt es zu klären, ob die Redekunst dieser Tage denn wirklich die Kunst des Überzeugens ist mit dem Ziel der Wahrheit mittels der Glaubwürdigkeit näher zu kommen - oder ob sie nicht doch eher zur Überredungskunst mutiert ist. Es gab und gibt viele Virtuosen, die die Klaviatur der Rede glänzend beherrscht haben, viel Freude am öffentlichen Auftritt zeigten aber am Ende mit wenig Feingefühl für die Wirkungen ihres Spiels grandiosen Schaden angerichtet haben. Redekunst, besonders der Politiker, erleben „wir“ fast täglich in den medialen Sprechblasen der Talkshows, in denen Politik zum wohlfeilen Populismus verkommt, Politiker aller Parteien sich dabei überbieten, gedrechselte Worte wiederzukäuen und dabei neuerdings Lobeshymnen auf die populäre Bürgerbeteiligung dichten. Von logos ist dabei wenig zu spüren. Den Punkt, dass Redekunst auch zwingend dazu eingesetzt wird, Macht herzustellen, können wir gerne an anderer Stelle weiterführen....

Zudem führst Du den antiken Gedanken an, Politik impliziere „Gemeinschaft“ und finde sich auf dem Marktplatz, dem öffentlichen Versammlungsplatz der Bürger. Diese Idee kann ich verstehen, wenn so etwas auf dem Marktplatz im Ortsteil Isselhorst vielleicht noch möglich ist. Allerdings schließt das auch diejenigen aus, die nicht auf dem Markt einkaufen (können) und die nicht zu den bekannten Gesichtern des Dorfes zählen – also viele, wenn man bedenkt, dass Isselhorst eine gut situierte Bürgerschaft sein Eigen nennt. Das entspringt der Ära des alten Buddenbrook, der als langjähriger Senator mit Zylinder auf dem Kopf einzelne Gespräche mit der Bürgerschaft suchte, die ihm schmeichelten und seine Sorge um das Gemeinwohl öffentlich zur Schau stellten. Und noch eins: Platon war auch kein Demokrat an sich. Am Ende verlangte er die bedingungslose Aufopferung der Einzelnen für ihr Gemeinwesen. Demokratie und ihre Erscheinungsformen haben sich nun seit Jahrhunderten weiterentwickelt. Und sie wird auch jetzt nicht stehen bleiben, wo sie ist. Das zumindest sagte auch Platon: Unsere Staatsform der Demokratie ist noch nicht das letzte Wort, nicht einmal das vorletzte.

Experimente zulassen
In den kommenden Jahren wird sich das „System Politik“ dieser neuen Formen nicht verschließen können. Es muss Experimente zulassen, um überleben zu können. Die aktuellen Protestbewegungen machen das deutlich, in dem ein großes Maß an Anonymität existiert – vor der aber die Aktiven keine Angst haben, sondern diese als Transmissionsriemen zu nutzen verstehen. Die nachrückende Jugend ist hier bereits anders sozialisiert, es ist also nur eine Frage der Zeit, wann sich diese Änderungen ganz durchsetzen, obwohl sie im Prinzip schon immer im System geschlummert haben, leider all zu oft von der Parteienräson eingefangen wurden:
Bei unserer Umfrage der ehemaligen Ratsleute in Gütersloh (Zimmermann, Knopp, 2009) ist etwa deutlich geworden: Diejenigen, die zwischen 15 bis 25-Jahren in die aktive Kommunalpolitik eingestiegen waren, geben überdurchschnittlich oft an, „etwas außerhalb von Wahlen bewegen/gestalten“ zu wollen. Besonders wichtig war dabei offensichtlich das politische Zeitgeschehen zur Zeit des eigenen aktiven Einmischens in die Politik. Zudem sind der Wunsch nach mehr Demokratie sowie nach einem generellen Wertewechsel (herausragend: ökologische und soziale Sicherheit) besonders häufig als Antwort vertreten.

Wunsch nach Veränderung durch Parteien vereitelt
Nach dem Austritt aus der aktiven K-Politik gaben viele als Beweggrund an: An erster Stelle steht für die Mehrheit eine zu starke Parteiräson und ein starrer Fraktionszwang sowie krampfhaftes Festhalten an Parteiprogrammen statt das sachorientierte Ausloten von Lösungen. Es folgen das Fehlen von echter Bürgerbeteiligung, mangelnde Transparenz der Entscheidungswege innerhalb der Politik sowie oftmals mangelnde Sachkenntnis. Besonders kritisch werden die allzu groben politischen Auseinandersetzungen ohne erkennbare Wertschätzung sowie fehlendes interfraktionelles Arbeiten zum Erreichen von Lösungen betrachtet. Nur sehr wenige der ehemaligen Mandatsträger sind nach ihrem Ausscheiden aus den kommunalpolitischen Ämtern noch in der Partei aktiv. Einige wenige Befragte haben ihren Schwerpunkt auf außerparlamentarische Gruppierungen verlegt wie attac und Gewerkschaften. 68 % haben sich andere Ort des Ehrenamtes gesucht, etwa Vereine.

Was genau den Unterschied ausmacht zwischen dem kommunalpolitischen Wirken und dem Engagement in anderen Formaten beschreiben die Befragten sehr deutlich: Betont wird hier von fast allen Befragten die größere persönliche Freiheit, die sich vor allem darin ausdrückt, dass ein selbstbestimmteres Arbeiten außerhalb der Politik möglich ist, ebenso wie das lediglich kurzfristige Engagement möglich ist, die Regelmäßigkeit wegfällt, das Formelle fehlt, weniger Zeitaufwand betrieben wird und mehr Zeit fürs Handeln bleibt ohne Projekte zu zerreden. Der Aspekt, in diesem Rahmen mehr Veränderung herbeizuführen als in der Politik, kommt zahlreich zum Ausdruck.

Die Frage, ob sie sich vorstellen könnten, noch einmal ein Mandat in der Kommunalpolitik übernehmen zu wollen, beantworten dann auch deutliche 65% mit einem klaren „Nein“.

Welche Änderungen konkret zu einer größeren demokratischen Teilhabe in Parteien und Kommunalparlamenten führen könnten, beschreibt der größte Teil der Befragten darin, mehr direkte Bürgerbeteiligung zu ermöglichen. Diese Aussage steht unangefochten auf Platz eins.

Keine Frage – einfach machen
Da kann ich mich nur anschließen. Und Dank dafür, dass Du mir weiterhin viel Kraft des „vollen Einsatzes“ wünschst, was immer das heißen soll. Um Erlaubnis fragen werde ich Dich jedenfalls dafür nicht.

Sonntag, 24. April 2011

Ostern 2011

Osterspaziergang

Johann Wolfgang von Goethe - Faust, 1. Teil
 
Vom Eise befreyt sind Strom und Bäche,
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Thale grünet Hoffnungs-Glück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,

Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,

Ueberall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlts im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen

Nach der Stadt zurück zu sehen.
Aus dem hohlen finstern Thor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feyern die Auferstehung des Herrn,

Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbes Banden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,

Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß, in Breit’ und Länge,

So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.

Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s seyn.

Kommentar zu meinem Blog: Pro Anonymität beim Bürgerhaushalt

Hier ein längerer Kommentar zu meinem Blog "Pro Anonymität beim Bürgerhaushalt" - von Siegfried Kornfeld, lange Jahrzehnte im Rat sowie in Ausschüssen der Stadt Gütersloh für die Grünen, aber ohne Parteibuch. Er bemängelt, dass nun wenige Zeilen in das Kommentarfeld passen. Seine Replik ist ungehalten, hier der gesamte Text im Original:

Liebe ehemalige Mitstreiterin Dr. Anke Knopp,
Marco Mantovanelli hat mich in seiner Fraktionsmail auf Deine Seite verwiesen, ich lese sie normalerweise nicht (auch nicht die von Wibke Brems oder der BfGT usw.). Immerhin hat sich Marco damit auf seine Weise um Transparenz bemüht, auch wenn Du ihm dieses Ansinnen sonst schon mal bestreitest.
Eigentlich möchte man ja im Alter milde werden – aber Dein Blogg hat mich geärgert.
Zunächst einmal begrüße ich es, wenn sich eine Initiative um mehr Bürgerbeteiligung – gerade in Angelegenheiten des Haushalts der Stadt – bemüht. Und wenn die diesjährige Internetplattform „Bürgerhaushalt“ einen Beitrag zu mehr Bürgerbeteiligung bewirkt, ist sie es wert, weiter verfolgt aber auch kritisiert und verbessert zu werden.
Wenn man den Anspruch erhebt, dass möglichst viele Menschen sich am politischen Diskurs beteiligen und von „Bürgerhaushalt“ spricht, muss sich die gesamte Bürgerschaft beteiligen können. Die derzeitige Form beinhaltet aber den Ausschluss einer breiten Bürgerschicht. Alle die, die keinen Internetzugang haben, sind von der Beteiligung ausgeschlossen oder können nur unter schwierigen Bedingungen teilnehmen. Das ist schon mal ein schwerwiegender Nachteil. Denn wer eine größerer Bürgerbeteiligung sucht, in der Form aber repräsentative Anteile der Bürgerschaft von einer Beteiligung ausschließt, begibt sich milde gesagt in Widersprüche.
Davon ist in allen Deinen Beiträgen allerdings keine Rede. Dagegen machst Du Dir Sorgen um die, die der Rechtschreibung nicht so richtig mächtig sind, um die, die sich mit ihren Nachbarn nicht anlegen wollen, um die, die erst einmal eine Hemmschwelle überwinden müssen, um sich an der Polis zu beteiligen. Und schreibst dazu, Anonymität sei die Voraussetzung dazu, diese Hemmschwelle zu überwinden.
Soweit ich die Beiträge gelesen habe, sind mir große Rechtschreibprobleme nicht aufgefallen. Als Herausgeber einer kleinen Ortsteilzeitung (DER ISSELHORSTER) habe ich es da oft mit sehr selbstbewussten Analphabeten zu tun.
Die Voraussetzung der Anonymität ist aber auch Bedingung der Möglichkeit, Gerüchte, üble Nachreden oder weit Schlimmeres in die Welt zu setzen. Auch die meisten Lobbyisten, jedenfalls die, die mir begegnet sind, arbeiten weitgehend anonym, zumindest nicht auf einem Markt, der für jeden transparent ist. Der Pressesprecher des Bertelsmann Konzerns lud mich dann zu einem Kaffee hinter verschlossenen Türen ein, wenn ich öffentlich etwas gegen das Gebaren des Konzerns zu sagen gewagt hatte.
Schließt die jetzige Form des „Bürgerhaushaltes“ schon große Gruppen der Bürgerschaft aus, so sollen diejenigen, die sich beteiligen können, anonym bleiben dürfen. Ihre Stimme soll zwar wahrnehmbar, aber ihr Sprecher nicht erkennbar sein. Das erinnert mich an die Homerischen Epen. Die Herrschaftsverhältnisse zwischen den Heroen wurden im Zweikampf ausgemacht, nur sie durften im Rat reden. Die Gemeinen waren davon ausgeschlossen, sie durften murmelnd ihre Zustimmung oder ihr Missfallen zum Ausdruck bringen – mitreden durften sie nicht. Wer auf der Plattform „Bürgerhaushalt“ anonym einen inhaltlichen Beitrag äußert, ist kein gleichberechtigter Teilhaber, sein Beitrag steht für nichts, er kann Beliebiges äußern, seine Äußerung hat für ihn keine Folgen, eine Auseinandersetzung mit ihm oder ihr ist nicht möglich. Das ist vergleichbar mit dem homerischen Murmeln. Es ist keiner Person konkret zuzuordnen, es ist aus seinen Beweggründen nicht zu verstehen. Du schreibst, das sei im Netz so und das Netz korrigiere sich selbst. Das mag vielleicht bei Wikipedia so sein, nicht aber bei diesen vielen schwachsinnigen Foren, in denen die Beteiligten anonym bleiben und auch nicht beim „Bürgerhaushalt“. Ich erinnere mich lebhaft an meinen ersten Chat im Rahmen der Kommunalwahl 1999 bei der NW. Ich bin da rausgekommen und habe gesagt, das war die flachste Form von Kommunikation, die ich in politischen Auseinandersetzungen bis dahin erlebt habe. Glaubst Du ernsthaft, das Sprachgewürge in den sogenannten „sozialen“ und anderen Netzwerken habe die Kommunikation zwischen Menschen verbessert? Glaubst Du wirklich, die bei Facebook aufgelisteten „Freunde“ hätten irgendetwas mit der Freundschaft zwischen Menschen zu tun, die sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen? Das Netz bietet ohne Zweifel viele gute Möglichkeiten, aber zu einer Verbesserung der öffentlichen Debatte leistet es nur unzureichende Beiträge. Inzwischen wird das Netz von nicht wenigen Bürgern als Instanz höherer Autorität beschworen, was im Netz steht, gilt unhinterfragt als richtig und wahr.
Nun ist Politik keine Enzyklopedie und die Beteiligung daran kann nicht anonym sein. Jedenfalls nicht dann, wenn es um Inhalte geht. Politik kommt von „polis“, womit nicht nur Stadt sondern in erster Linie die Gemeinschaft der Bürger gemeint ist. Gemeinschaft aber kann es nur unter physisch vorhandenen, identifizierbaren Bürgern geben, auch wenn ihre Kommunikation mit Werkzeugen der Technik zustande kommt. Und das System der Politik beruht auf einer Vorherrschaft des gesprochenen Wortes über alle anderen Instrumente der Macht. Und das gesprochene Wort ist nicht mehr das Wort des Rituals, der gesprochenen Formel wie in der Religion oder der Smiley in den Foren, sondern des logos, der vernünftigen Rede. Beides impliziert einen Sprecher, also eine identifizierbare Person, den Bürger / die Bürgerin, die sich der vernünftigen Rede bedient, sich also mit der Sache ihrer Rede auseinandersetzt. Es bedarf auch eines Publikums, an das sich das gesprochene Wort als seinen Richter wendet. Und dieses Publikum ist ebenfalls nicht anonym, sondern findet sich auf dem Markt, dem öffentlichen Versammlungsplatz der Bürger. Mit diesen zugegeben idealisierten antiken Vorstellungen von polis und Versammlungsplatz der Bürger und Bürgerinnen hat der digitale Marktplatz aber auch die digital und anonym geäußerte Stellungnahme nichts gemein. Aber manchmal ist es notwendig, sich auf die Ursprünge zu besinnen, um sich nicht im Nebel der Details der Gegenwart zu verlieren.
Selbst unser Wahlsystem ist nicht anonym, wie Du es in Deiner Argumentation ansiehst. Es bleibt zwar anonym, was gewählt wird, aber es ist öffentlich, wer berechtigt ist zu wählen. Teilnehmer einer Wahl müssen sich identifizieren. Das Organ des Wahlleiters kann und muss namentlich nachweisen können, wer an der Wahl teilgenommen hat und wer von den Wahlberechtigten nicht. Personen ohne Wahlberechtigung werden pingelig ausgeschlossen.
Teilhaber am politischen Prozess müssen sich also legitimieren. Die digitale Form des Gütersloher Bürgerhaushalts ist gewählt worden, um den Prozess der Beteiligung und der Entscheidungsfindung zu rationalisieren.
(Ein Ergebnis der Rationalisierung von Beteiligung und Entscheidungsfindung ist aber auch die repräsentative Demokratie und ein weiteres Ergebnis der Rationalisierung ist, sich ein Urteil zu bilden, wer um der Sache willen sich in den Prozess der politischen Auseinandersetzung einschaltet oder wer aus anderen Gründen die Zeit der politisch handelnden Menschen in Anspruch nimmt. Vielleicht warst Du nicht lange genug im Geschäft, aber glaub mir, die Motivation, mit Politikern zu sprechen, sind sehr vielfältig und oft nicht auf die Sache bezogen, die zunächst als Anlass vorgegeben werden. Das umfasst z. B. die Aussage eines Bürgers „Was glauben Sie denn, weshalb ich hier stehe und mich mit Ihnen unterhalte: jetzt nach zwei Stunden sind meine Kopfschmerzen weg und das ist der einzige Zweck meines Gespräches mit Ihnen“ bis hin zu der Äußerung einer Bürgerin „Ich möchte nur, dass überhaupt jemand mit mir spricht.“ Dass nicht alle Politiker auf kommunaler Ebene auch gute Sozialarbeiter, Gesprächs- oder andere Therapeuten sind, ist das auch der „politischen Kaste“ vorzuwerfen? ).
Die derzeitige digitale Form des „Bürgerhaushaltes“ lies es zu, dass auch „Nichtbürger“ teilhaben konnten (was ja auch passiert ist), die Form lies es ebenfalls zu, dass Bürger sich unter mehreren Namen registrieren konnten, auch wenn das in den „Spielregeln“ ausgeschlossen wurde. Das Ergebnis ist mit 1672 Teilnehmern durchaus beachtlich, aber keineswegs repräsentativ. Da nutzt es auch nicht, die Zahl durch Hinzuziehen der Zugriffe oder der Seitenaufrufe schön zu reden, wie D. Fiedrich es in einem Leserbrief gemacht hat. Die eingebrachten Beiträge sind mehr oder weniger sinnvoll, innovativ und insofern beachtenswert, aber eine Legitimation haben sie nicht.
Es ist ein Versuch, eine größere Zahl von Bürgern an kommunalpolitischen Entscheidungen zu beteiligen. Nicht mehr und nicht weniger. Und wenn dieser Versuch weiter gehen soll, bedarf es der Korrektur der Regeln. Und eine dieser Korrekturen muss die Teilnahme unter vollem Namen und Adresse sein. Bürger und Bürgerinnen müssen sich nachprüfbar legitimieren.
Rationalisierungen in dem Prozess politischer Beteiligung und Entscheidungsfindung bewirken nicht automatisch eine Verbesserung der Entscheidungsqualität, rechtfertigen allerdings auch nicht ihre Fehlentwicklungen. Demokratische Verhältnisse (und deren Verbesserung) hat es nie ohne Mühen gegeben. Änderungen und Korrekturen an Fehlentwicklungen auch nicht und die Geschichte ist voll von Mühen identifizierbarer Menschen oder Gruppen um Verbesserung der Prozesse oder der Abwendungen von Fehlentwicklungen. Namen (insbesondere aus Gütersloher Initiativen) brauche ich Dir da ja wohl nicht zu nennen.
Beteiligung an der polis ohne Mühen und ohne Folgen für die beteiligte Person, den Bürger, die Bürgerin ist nicht möglich. Und diese Folgen muss der Bürger / die Bürgerin, so er / sie denn einer / eine sein will, aushalten. Dieses Aushalten der Folgen ist in unserer derzeitigen historischen Situation durchaus zumutbar. Folgen können die Hinterfragung der Argumente sein, der Hinweis, diesen oder jenen Aspekt nicht beachtet zu haben usw.. Um Rufschädigung, gar um Gefahr von Leib und Leben muss in unserer Situation niemand Sorge haben.
Natürlich kann man mit Angabe des Namens als auch ohne diese Angabe Beteiligungsunsinn betreiben. Ich habe oft die Unterschriftslisten von Bürgeranträgen durchgesehen und erstaunliche Dinge gefunden. Bürger, die zwar eine Unterschrift gegeben hatten aber keinen blassen Dunst von dem Sachverhalt hatten, den sie da unterschrieben hatten (Ich habe stichprobenhaft angerufen). Bürger, die seinerzeit bei der Umgehungsstraße Friedrichsdorf sowohl auf Anträgen für als auch gegen die Umgehungsstraße unterschrieben hatten. Das bestärkt keineswegs Deine „Pro Anonymität“ Argumente. Nur mit der Unterschrift waren Widersprüche, Missverständnisse, Unverständnisse aufzuzeigen. Dass Menschen ihre Unterschrift für etwas geben, was sie nicht verstehen oder womit sie sich nicht beschäftigt haben, zeigt, dass Beides zusammen gehört: 1.) der Bürger als identifizierbare Quelle und 2.) der logos, der vernünftigen Rede, einer Rede, die sich mit den zugrunde liegenden Sachverhalten auseinander gesetzt hat und die diesem identifizierbaren Bürger zuzuordnen ist. Ein politischer Diskurs ohne jede Kenntnis des Sachverhaltes erscheint mir als nicht möglich – auch, wenn nicht erwartet werden kann, dass jeder Bürger sich in beliebige Tiefen der Argumentation begeben kann. Aber in der politischen Auseinandersetzung mit Bürgerinnen und Bürgern ist es mir oft passiert, dass vordergründig „naive“ (naiv im Sinne von Ursprünglichkeit) Beiträge zum Nachdenken zwingen.
In meinen 25 Jahren Ratszugehörigkeit bin ich von vielen Menschen kontaktiert worden, zu Gesprächen eingeladen, angeschrieben, angemacht, beschimpft, verhöhnt und sogar angespuckt worden. Beschimpfungen und Verleumdungen, aber auch Denunziationen kamen oft anonym. Auf sie konnte ich nicht reagieren. Einmal habe ich Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt, das war natürlich auch nur Ausdruck der Hilfslosigkeit.
Mit den nicht anonymen Menschen habe ich mich dagegen auseinandersetzten können, mich ihren Fragen gestellt, ihre Kritik gehört und versucht, die Zusammenhänge der Materie nach meinem Verständnis und die Gründe meiner Entscheidung darzulegen. Oft über viele Stunden des Gespräches oder viele Seiten schriftlicher Korrespondenz. Manchmal mit dem Ergebnis einer bereichernden Auseinandersetzung, in Einzelfällen auch mit dem Ergebnis einer schriftlichen Entschuldigung – von meiner Seite, aber auch von Seiten der Bürger.
Das „Schema der bisherigen politischen Kultur“ ist sehr viel differenzierter, als Du es in Deinem Blogg darzustellen versuchst. Und ich unterstelle, dass Du das auch weist. Da gibt es nicht nur auf der einen Seite die „Kaste der Politiker“, zynisch, korrupt und empfindungslos wie ein Türpfosten (die gibt es, aber die gibt es auch in der Wirtschaft, in der Rechtsprechung, in den Banken in den Kirchen, Gewerkschaften, Sozialverbänden…), sondern es gibt auch den ängstlichen, zaghaften wie ein Halm im Winde der öffentlichen Meinung sich Windenden, der den Satz des Widerspruchs nicht kennt, sich keinen Standort erarbeitet hat, kein Gestern und kein Morgen kennt, sondern an den Pflock des Augenblickes gebunden den vermeintlichen Erfordernissen hinterher rennt, soweit seine Kette es zulässt. Aber es gibt in der Politik auch Menschen, die sich um Lösungen bemühen, die zwischen den verschiedenen Interessen zu vermitteln versuchen, die um Kompromisse bemüht sind und die einen nicht unerheblichen Teil ihrer Lebenszeit dafür einsetzen, ehrenamtlich. Und es gibt besonders oft in der Politik auch menschliche Beschädigungen.
Auf der anderen Seite gibt es auch nicht nur den hehren Bürger, der selbstlos in seinen Äußerungen das Gemeininteresse im Blick hat und danach handelt. Den gibt es zwar, aber es gibt auch den, der von nichts eine Ahnung hat, es gibt fundamentale Interessengegensätze, es gibt Bürger, die ausschließlich ihrem Eigeninteresse folgen. Und es gibt auch in der Bürgerschaft Menschen mit Beschädigungen. Den Typus des Egoisten habe ich unter den Politikern wie unter den Bürgern häufiger angetroffen, als den des Altruisten. Was Du dazu in Deinem Blogg schreibst, ist schlicht und ergreifend Unsinn.
Seiten wie die Deine tragen leider ihr Scherflein zu dem Bild „der Kaste der Politiker“ bei, wie es am Stammtisch oder unter sonstigen Fußkranken der Staatsbürgerkunde gepflegt wird. Es tut mir leid, Dir das in dieser Härte sagen zu müssen.
Und dazu tragen auch anonyme Briefe oder sonstige anonymen Äußerungen von Menschen bei, die sich nicht zu erkennen geben. Die Angst machen. Meine Frau hat sich an unserem früheren Wohnort geängstigt, weil sie sich von einem Psychopaten beobachtet und schriftlich bedroht fühlte, mit dem ich es zu tun hatte. Einem Psychopaten, der seine rhetorischen Fähigkeiten und seine Skrupellosigkeit anonym einsetzte. Auch damit hat man es in der Kommunalpolitik zu tun. Ist es da verwunderlich, wenn man sich ein „dickes Fell“ zulegt?
Die Folgen einer anonymen Beteiligung erfahren in der Quotenermittlung beim Fernsehen ihre erbärmlichste Ausformung, gut quotierte Sendungen sind in der Regel niedrigstes Niveau.
Dass die Prozesse der Entscheidung unter der unabweisbaren Notwendigkeit ihrer Rationalisierung verbessert werden müssen, dass sie einer breiteren Beteiligung bedürfen, ist nicht zu bestreiten. Aber eine bequeme und anonyme Beteiligung vom Sofa aus ohne Verantwortung für das dort Eingebrachte, wird die Qualität politischer Entscheidungen weder verbessern, noch den Prozess der Entscheidungsfindung transparenter machen.
Du selbst hast mal das Modell der Dienelschen Planungszelle in die Diskussion gebracht. Varianten davon sind in der Stadt wiederholt angewandt worden, beispielsweise bei der Entwicklung des Stadtentwicklungskonzeptes. Die Lösungen, die dort öffentlich erarbeitet wurden, waren gar nicht so schlecht, wurden aber oft wieder ad absurdum geführt, wenn aus der Anonymität dagegen geschossen werden konnte, ich vermute, von denselben Bürgern und Bürgerinnen, die zunächst öffentlich an konsensfähigen, akzeptablen Lösungen mitgewirkt hatten. Und der Konsens und die Akzeptanz wurden öffentlich erfragt.
Varianten dieser Methode könnten auch auf den Bürgerhaushalt angewandt werden. Bequemer wäre diese Methode nicht, aber wie schon mehrfach gesagt: bequem ist Demokratie nun mal nicht, man muss sich schon dafür einsetzen und dafür „aus dem Haus gehen müssen“. Mit seiner Person. In öffentlicher kontroverser Debatte, Diskussion, Argumentation. In der das Argument zählt und nicht die Stimmungsmache.
Ich wünsche uns allen, dass der Prozess einer besseren Beteiligung in der Kommunalpolitik gelingt. Dazu ist der digitale Bürgerhaushalt ein Modell unter anderen Modellen. Aber Teilhabe kann nur verantwortliche Teilhabe sein. Und die bedarf der Identifikation der Teilhaber und Teilhaberinnen. Auf der Plattform des Bürgerhaushalts wird von „Spielregeln“ gesprochen. Verantwortliche Teilhabe aber ist kein Spiel, das man aufnehmen, aber auch wieder fallen lassen kann.
In diesem Sinne wünsche ich Dir weiterhin die Kraft des vollen Einsatzes! Aber auch der Nachdenklichkeit. Sei gewiss, dass ich mich gelegentlich öffentlich zu Wort melde. Du kannst diesen Beitrag gern auf Deiner Seite veröffentlichen. So wie sie derzeit angelegt ist, ist sie auch sehr hierarchisch. Kommentare sind zwar möglich, aber können nur in einem kleinen Kästchen eingesehen werden. Eine gleichwertige Auseinandersetzung ist so nicht möglich, vielleicht auch nicht gewünscht. Womit wir wieder beim Thema wären: Murmeln ist zulässig, mitreden eher nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Siegfried Kornfeld

Samstag, 23. April 2011

Bouns-Zahlungen: Aus "gut" machen, was es ist!

Bonus heißt "gut"
Bonuszahlungen: Alle Bankhäuser zahlen sie mindestens einmal im Jahr an ihre Manager in den Chefetagen. Bonus, das lateinische Adjektiv bedeutet: gut. Es wird als Begriff für Zuwendungen von Geld oder Punkten etc. für besonders gute Leistungen genutzt. Das Gegenteil von „bonus“ ist „malus“. Lateinisch für „schlecht“, im Gebrauch von Punktabzug.

Seit der Bankenkrise von 2008, die die globale Welt mit einem Wimpernschlag  in die roten Zahlen katapultiert hat, kennen wir uns ein klein wenig mit dieser Begriffswelt aus: Derivate, Ratingagenturen, Bonus-Zahlungen, all dieser Bankensprech ist plötzlich so geläufig wie Hagelschauer und Sandburg. Spätestens nach dem ersten Sonderbericht in der Tagesschau teilen wir diese Fachsprache und haben damit die Denke der Banker übernommen. Damit sind wir Teil ihres Systems, weil wir es sprachlich teilen. Aber wir teilen die Inhalte nicht!


Bankenrettung
Das globale Bankensystem kann der „kleine Mann“ nun nicht ändern. Daran sind weltweit schon die Regierungen grandios still gescheitert. Statt Regulierung der Finanzmärkte folgte die „Bankenrettung“. So sind wir als Gesellschaft nicht nur Teilhaber der Bankensprache, sondern auch ohnmächtige Anteilseigner der Banken. Denn der gemeine Steuerzahler, also du und ich, wir haben den Bankrott durch unsere Steuergelder verhindert.


Nehmen wir einmal die Commerzbank, die mit dem gelben Schriftzug und neue Eignerin der Dresdner, die mit dem grünen Band der Sympathie. Mit rd. 18 Mrd. Euro wurde sie vom Staat vor dem Absturz geschützt. Heute werden Boni-Zahlungen im dreistelligen Millionenbereich für „außergewöhnliche Leistungen“ möglich.

Empörung erwacht zyklisch
Während das System „Finanzparkett“ unverändert weiter wirkt, erwacht unsere Empörung wiederkehrend immer dann neu, wenn die großen Banken ihre Bilanzen vorstellen. Und eben auch die Bonuszahlungen an die Nadelstreifenanzugträger in den Chefetagen bekannt geben (müssen). Glücklicherweise teilen wir daher kollektiv auch das Unrechtsbewusstsein. Das Credo, die Bänker seien unmoralisch, sittenwidrig, verwerflich, schamlos, eint uns.

Warum "gut" nicht einfach ändern?
Wie gesagt, das System Geld können wir nicht ändern, es ist fest in den Händen weniger. Warum aber teilen wir deren Sprache und manifestieren „Bonus“ als „Bonbons“ für die Manager? Denn die Bedeutung eines Wortes bestimmt allein sein Gebrauch in der Sprache. Nun ist Sprache durchaus frei verfügbar, nicht privatisiert und ein Segen (!) in den Händen vieler: Machen wir als Sprachgemeinschaft doch einfach aus den Bonuszahlungen, Maluszahlungen. Mit der Sprachhoheit erobert sich die Sprachgemeinschaft zumindest verbal zurück, was ihre Volksvertreter nicht ändern können: Aus einem gezahlten „Bonus“ für moralisch verwerfliche Leistung können wir wieder das machen, was es eigentlich ist: nämlich ein „Malus“ - ein Punktabzug für Banker. Sprache ist das alleinige Vehikel unseres Denkens und formt in der Konsequenz eine Lebensform, sagt Wittgenstein. Das wäre zumindest eine verbale Satisfaktion fürs ohnmächtige Beiwohnen ungerechter Handlungen in unserer modernen Welt.

Freitag, 15. April 2011

Zurück zum Alltag - zum Alltag zurück?

Kilometerzahl unwichtig, Wolken sind grenzenlos






"Konsequenzen aus der Atomkatastrophe in Fukushima" wollen die Grünen im Kreis Holzminden ziehen. Mit einem Antrag für den Sonderkreistag am Freitag, 15. April, um 17 Uhr im Kreishaus will die Fraktion, dass der Landkreis die Bundes- und Landesregierung auffordert, für die "schnellstmögliche und endgültige Stilllegung des Atomkraftwerks Grohnde" zu sorgen. 

Große Landstriche des Kreises Holzminden liegen in der 20km-Evakuierungslinie des AKW Grohnde. Im schlimmsten Fall wäre der Landkreis auf Jahrzehnte verstrahlt. Und was passiert mit den Menschen, die in der direkten Umgebung evakuiert werden müssten? Diese und weitere Fragen stellt heute die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Sondersitzung des Kreistages. 

Und wie weit ist Gütersloh entfernt? 80 Kilometer? Und kommt der Wind nicht oft aus Westen? Schon vor zwanzig Jahren haben die Grünen gefragt, ob es eigentlich eine Strategie für solche Katastrophenfälle gibt. 
Antwort: Soetwas passiert hier nicht!
 
Na dann.

Mittwoch, 13. April 2011

Wieviel Augenmerk liegt auf den Kindern der Stadt?

Gütersloh ist eine reiche Stadt -  wird immer wieder erklärt. Nach Angaben u.a. des Statistischen Landesamtes kann man dem zustimmen, immerhin liegt die Stadt mit einer Kaufkraft von rund 47.000 Euro noch weit vor Münster mit rd. 274 Tausend Einwohnern und einer Kaufkraft von rd. 37.000 Euro. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten.

Und so kann das Thema Kinderarmut dieser Tage nicht ganz spurlos auch an der Stadt Gütersloh vorbeigehen. Kinderarmut bezeichnet den Anteil der Kinder unter 15 Jahren, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II beziehen.

Kinder und Jugendliche wachsen unter sehr unterschiedlichen Bedingungen auf. Während die Mehrheit der Jugendlichen laut der aktuellen Shell-Studie optimistisch in die Zukunft blickt, trifft dies nicht für die Jugendlichen aus den sozial schwächsten Schichten zu, deren Zuversicht seit 2002 abgenommen hat. Das Ergebnis spiegelt die erschreckende Ungleichheit von Bildungs- und Teilhabechancen in Deutschland wieder. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen wissen das – und schätzen ihre eigene Situation auch so ein:

http://www-static.shell.com/static/deu/downloads/aboutshell/our_commitment/shell_youth_study/2010/youth_study_2010_graph_satisfaction.pdf

Die Shell-Studie findet sich hier:
http://www.shell.de/home/content/deu/aboutshell/our_commitment/shell_youth_study/downloads/#subtitle_2

Noch mehr als in vielen anderen OECD-Staaten sind die Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien besonders schwierig, ihrer sozialen „Position“ zu entkommen. Strukturierte Ungleichheit nimmt zu und verfestigt sich in vielen Fällen von Generation zu Generation.
http://idw-online.de/pages/de/news403103

Besonders betroffen sind Berlin (mit einer Quote von 35,7 Prozent) sowie Bremen und Sachsen-Anhalt mit jeweils 30 Prozent. Es folgen Mecklenburg-Vorpommern (28,3 Prozent), Sachsen (24,1 Prozent), Brandenburg (23,2 Prozent), Hamburg (23 Prozent) und Thüringen (22,1 Prozent). Zum Teil deutlich niedriger liegt die Kinderarmutsquote in den westdeutschen Flächenländern Nordrhein-Westfalen (17,2 Prozent), Schleswig-Holstein (16,2 Prozent), dem Saarland (15,9 Prozent), Niedersachsen (15,6 Prozent), Hessen (14,6 Prozent) und Rheinland-Pfalz (12,1 Prozent). In Baden-Württemberg (8,3 Prozent) und Bayern (7,4 Prozent) ist Kinderarmut kaum anzutreffen.So die Ergebnisse auf dem Kommunalkongress 2011 der Bertelsmann Stiftung.
Und wie sieht das in Gütersloh aus? Die Kinderarmut beträgt 13 %. In Münster liegt sie bei 16,4 Prozent im Vergleich. Aber das Thema ist nicht neu. Bereits im Familienbericht von 2008 der Stadt Gütersloh, konkret im Kapitel 9 "Lebenssituationen von Kindern in Gütersloh" wird das deutlich. Denn hier steht schwarz auf weiß, dass gerade Kinder die am häufigsten von Armut betroffene Altersgruppe in Gütersloh ist. Einem besonders hohen Armutsrisiko sind Kinder aus Familien Alleinerziehender, kinderreichen Familien und Familien mit Migrationshintergrund ausgesetzt. Das ist in anderen Kommunen nicht anders. In Gütersloh sind 26 Prozent der Familien und 31 Prozent der Kinder von Armut bedroht oder konkret betroffen - so der Bericht.

Mit Blick auf diese prekäre Ausgangssituation wird auch die gesellschaftliche Teilhabe enorm in Frage gestellt. Dies belegt wiederum auch der Familienbericht der Stadt.
Die Kinderfreundlichkeit in der Stadt sei zwar sehr positiv ausgefallen, so der Bericht, aber es zeigen sich in den einzelnen Sozialräumen deutliche Unterschiede. Besonders kritisch werde dies im Stadtteil Paventstädt gesehen. Kulturelle Freizeitaktivitäten wie Theaterbesuche werden von 63 Prozent der Befragten nie und von 34 Prozent selten besucht. Von besonderem Interesse ist auch der Bildungsverlauf - und -erfolg. Die sind wie gesagt besonders eng an den sozialen Status gekoppelt. Hier spielt der Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule eine entscheidende Rolle. So werden die die Bildungs- und späteren Lebenschancen maßgeblich beeinflusst - liest man im Familienbericht.

"Bei dem Schulwechsel zu einer weiterführenden Schule lässt sich der Trend erkennen, dass nichtdeutsche Schüler häufiger auf die Hauptschule (18 %) oder die Gesamtschule (45%) wechseln als deutsche Schüler. (Hier:  7 % Hauptschule, Gesamtschule 20%) Der Wechsel auf ein Gymnasium erfolgt bei deutschen Schülern viermal öfter (40 Prozent)  als bei nichtdeutschen Schülern (10%). Dies zeigt eine deutliche Schlechterstellung der nichtdeutschen Schüler beim Übergang zu Schulen mit höheren Bildungsabschlüssen. 61 Prozent der deutschen Jugendlichen wechseln auf eine Schule mit höheren Bildungsabschlüssen, aber nur 55 Prozent der nichtdeutschen Jugendlichen." Zitiert nach Familienbericht der Stadt 2008.

Wenn wir also von Kinderarmut sprechen und von einem besonderen Handlungsbedarf zur Gegenstrategie in den Kommunen, ist gerade die Förderung der Kinder in den Kitas und Schulen der Stadt ein springender Punkt.

Hier fehlt nach wie vor die Analyse und eine sich daraus ergebende Handlungsstrategie für die Gütersloher. Bisher sind diese Themen nicht wirklich diskutiert worden. Es bleibt immer wieder bei Nennung der Zahlen von Schulzugängen auf die letzte Sekunde, bei der faktischen Hinnahme der Chancenungleichheit. Wie wäre es einmal mit der Diskussion, ob nicht "mehr Geld" in Schulen mit "sozialem Brennpunktcharakter" fließen sollte? Wie wäre es mit einer öffentlichen Diskussion dazu? Die Initiative "Demokratie wagen" hat hierzu einen Antrag gestellt, die Inhalte zur Frage "Welche Bildung will Gütersloh" des geplanten Bildungsgipfels in der Stadt auch auf der bestehenden Onlineplattform des Bürgerhaushaltes durch die Bürgerschaft diskutieren zu lassen. Wie heißt nochmal der schöne afrikanische Spruch, den die Stadt sich zur Bildungsoffensive erwählt hat? Es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder zu erziehen. Wie wahr. Wie wäre es also mit dem ausgesprochenen Mut zur Veränderung? Ein erster Schritt wäre mal, den Planungsstand zum Bildungsgipfel darzustellen. Der fehlt nämlich bis heute. Da lässt sich ja schon ablesen, ob auch Kinderarmut auf dem Programm steht - wie gesehen: ein wesentlicher Faktor für Bildungserfolge.

"Die Zukunftsfähigkeit unserer Stadt wird nicht zuletzt daran gemessen, welche Aufmerksamkeit wir bei unseren politischen Entscheidungen unseren Kindern zukommen lassen," sagt dazu Bürgermeisterin Maria Unger bereits 2008.









 
 

Montag, 11. April 2011

Nach Hause

                                                                        
Feierabend. Ich fahre nach Hause
durch den Tunnel, Hauptverkehrsstraße
ziemlich schnell
schaue in den Rückspiegel
hinter mir ein Auto mit polnischem Kennzeichen
kann ich gerade noch erkennen
der Pole fährt sehr nah auf
neben ihm sitzt ein Beifahrer
merkwürdige Körperhaltung
er ist auf dem Sitz nach hinten geklappt
leblos widerstrebt er jeder natürlichen Fahrbewegung

Zeit nach vorne zu schauen
dann muss ich bremsen
abrupt
mein polnischer Hintermann auch
ich komme zum Stehen
der hinter mir auch – es kracht ziemlich laut
er ist mir mit Wucht auf die Karre gefahren
Stille, Staub

ich steige aus, mein Nacken schmerzt
Energie hängt in der Luft
mein Hintermann steigt auch aus
er ist Mitte 50 und ganz grau
leichenblass um die Nase
Ist ihnen was passiert?
Ich frage ihn Gleiches
auf der Rückbank seines Wagens entsteht Bewegung
eine alte hutzelige Oma steigt aus
sie sagt nichts
ihr ist nichts passiert
sie streicht ihr Kopftuch glatt

der Dritte im Auto, der Mann vom Beifahrersitz regt sich nicht
Ist ihm etwas passiert?
der Pole vor mir antwortet nicht
ich schaue nach, linse ins Auto
der Alte setzt mir nach
nein, kein Problem, beeilt er sich
 - der ist schon tot!
ich ziehe die Augenbrauen hoch
was?

Das ist mein Vater, so der Graue
ist zu Besuch in Deutschland
gestern Abend gestorben
der Doktor war schon da
aber Vati wollte nach Hause
nach Polen
begraben in Heimat
die Überführung ist teuer
das Auto ist billiger

Ich nicke 
wir hören Sirenen
jemand hatte 110 gewählt
wir blockieren die ganze Fahrbahn
Stau und Stillstand
ich muss mich setzen
ich will nach Hause
der Großvater auch

Mittwoch, 6. April 2011

Wie eine Grundschule in einen Stadtteil strahlt

Ich war auf Dienstreise. Und bringe meine Eindrücke mit. Aus einer Grundschule in einer Stadt, die nur eine Zugstunde entfernt liegt: Dortmund. Was hat das mit Gütersloh zu tun?, könnte man fragen. Eine Menge, denke ich. Denn Schulpolitik wird auch in unserer Stadt gerade diskutiert. Problemlos ist Schule nämlich auch hier nicht - auch wenn wir hier vergleichsweise "gut behütet" zu sein scheinen. Daher hier meine Einblicke:

Besuch in der Grundschule "Kleine Kielstraße"
Es ist ein grauer Tag. Es nieselt als wir in der Kleinen Kielstraße ankommen. Wir besuchen heute die gleichnamige Grundschule „Kleine Kielstraße“ in Dortmund. Um uns herum ragen die Wohnsilos der „Nordstadt“ wie der Stadtteil hier heißt in den regenverhangenen Himmel. „Ein Problemviertel“, sagt uns der Taxifahrer. Aber das wissen wir schon.



Beton statt blau   Foto: St. Rother
Bilder zur Nordstadt kann man sich hier anschauen:
http://www.google.de/search?q=Dortmund+Nordstadt&hl=de&a...


Wir biegen um die Ecke auf den Schulhof ein. Ein einzelner Baum am Eingang ist mir ein Lichtblick. Und natürlich zwei Schüler, die uns die Tür öffnen. Ein Junge mit einer Zahnlücke lächelt uns an. „Guten Morgen“, sagt er. Wir treten ein und stehen im bunten Treppenhaus der mit dem Deutschen Schulpreis 2006 ausgezeichneten Grundschule. Was mir sofort gefällt und im Nu mein Herz gewinnt: Da stehen Zahlen auf den Treppenstufen. Auf der ersten Stufe rechts ist in gelb eine „eins“ aufgeklebt. Eine Stufe höher Links am Geländer geht es weiter mit „zwei“ – jetzt in rot. Mit dem Blick nach oben sehe ich „neun“ und „zehn“. Die Stufen ziehen sich nummeriert bis in den vierten Stock. So kann jedes Kind beim Treppenlaufen Zahlen „erklimmen“ – aufwärts und abwärts. Genial. Jedenfalls für einen zahlentraumatisierten Ex-Grundschüler wie mich.


Die Grundschule wurde 1994 gegründet. 85 % der Kinder haben einen Migrationshintergrund. Sie liegt eindeutig in einem Stadtviertel mit besonderem „Erneuerungsbedarf“. Heute sprechen wir auch von einem „sozialen Brennpunkt“. Im Wissenschaftsdeutsch spricht man davon, wenn Wohngebiete, in denen Faktoren, die die Lebensbedingungen ihrer Bewohner und insbesondere die Entwicklungschancen beziehungsweise Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen negativ bestimmen, gehäuft auftreten.“ (So beschreibt es der Deutsche Städtetag bereits 1979). In diesem Stadtteil leben die meisten Kinder.


Hier eine Spiegel-TV-Doku „Leben im Brennpunkt“:
http://www.spiegel.de/sptv/tvthema/0,1518,560711,00.html


Hier ein Filmbeitrag von COSMO TV zum „Arbeiterstrich“ in der Nordstadt
http://www.youtube.com/watch?v=uQwP7oAuxbg


Die Probleme im Stadtteil sind massiv. Und in diesem Umfeld heißt die Aufgabe, „Schule zu machen“, zu unterrichten und Kindern die Bildung mitzugeben, die sie für ihren Lebensweg brauchen werden. Um anzu-kommen in der deutschen Gesellschaft, um teilzuhaben. Die „Kleine Kielstraße“ ist aber längst mehr. Sie ist ein Lebensort für Kinder. Bei unserem Rundgang, den uns die Schule und vor allem die Rektorin Frau Schultebraucks-Burgkart ermöglicht, schauen wir in einzelne Klassenräume. Das ist ganz einfach, die Türen stehen weit auf. In einem Raum erleben wir, wie eine kleine Gruppe Kinder im Kreis sitzt und gemeinsam über „Werbung“ spricht – Farbe, Form und Text werden fachkundig analysiert und diskutiert.


Hinter dem Offensichtlichen liegt das Konzept der Schule: Die Schule setzt ihr Leitbild um, nämlich zukunftsorientiertes Lernen, professionelle Zusammenarbeit im Kollegium, Elternarbeit, ganztägige Betreuung und Öffnung zum Stadtteil. Von allem findet sich hier Anschauliches. Sei es die vielen „Themenkisten“ in denen die gemeinsamen Unterrichtsmaterialien auf ihren Einsatz warten, denn diese ziehen sich durch alle Fächer hindurch, verschwinden nicht nur in der Schublade eines Kollegen, sondern sind für alle da. In der „Lernwerkstatt“ ziehe ich die Kiste mit der Aufschrift „Römer“ heraus. Und finde Bilder vom „Forum Romanum“ und das damalige innovative Viaduktwesen der Stadt. Gesammelt wird weiterhin, in der Kiste ist noch Platz – es warten noch viele Kinder auf deren Einsatz.
In Kisten schlummert das Wissen    Foto: St. Rother
“Durch Hospitationen in Parallelklassen, durch gemeinsame Konzeption von Unterrichtsreihen, arbeitsteilige Erstellung von Wochenplänen und Unterrichtsmaterialien, Absprachen von Leistungsüberprüfungen, Festlegen von Anforderungs- und Auswertungskriterien und Überlegungen zur Weiterarbeit wird die Diskussion um Unterrichtsziele, Methoden und Leistungsstandards in Gang gehalten, werden Leistungen vergleichbarer, werden Qualitätsindikatoren definiert, wird Qualität weiterentwickelt. Die Arbeit des Jahrgangsteams wird nachvollziehbar im Jahrgangsordner dokumentiert, der am Ende des Jahres an die Kolleginnen weitergegeben wird, die dann in der Jahrgangsstufe arbeiten werden.“ Heißt es auf der Homepage der Schule.


Weiter geht es, wir erleben hautnah, was eigentlich „Öffnung zum Stadtteil“ bedeutet: In dem „Elterncafé“ treffen sich Frauen zum Integrationskurs. Heute sitzen hier die „Fortgeschrittenen“, nebenan nähen Mütter und lernen nebenbei deutsch. Beeindruckend ist das Konzept zur Einbeziehung der Eltern, lange bevor die Kinder überhaupt in die erste Klasse gehen. In Kooperation mit dem Stadtteilverein, der Stadt und dem Wohnungsbauunternehmen LEG wurde in der Schule das täglich geöffnete Elterncafé installiert. Das niederschwellige Angebot ermutigt Eltern, Fragen zur Schule unterhalb der offiziellen Mitwirkungsforen zu stellen. Hier findet sich auch Raum für Einzelfallberatung und an andere Unterstützungsformate. Es ist ein Hort für vielfältige Qualifizierung (z.Zt. Sprach-, Alphabetisierungs-, Computer-, Erziehungs- , Erste-Hilfe-Kurse und Schuldnerberatung).
Im Stadtviertel Nordstadt    Foto: St. Rother
Der Zugang zu schwer erreichbaren Müttergruppen, die weder Deutsch sprechen, noch lesen, schreiben, einen Stundenplan deuten oder Uhrzeiten erkennen können, wird erleichtert durch der gleichen Ethnie angehörenden Rucksackmütter aus dem „Pool“ ehemaliger, der Schule immer noch verbundener Mütter. „Hier geht es um klare Verantwortlichkeit: Alle Eltern wollen, dass aus ihren Kindern etwas wird. Die Aussage, „die interessieren sich nicht“, stimmt oft nicht. Es kommt auf die Ansprache an“, so Schultebraucks-Burgkart.


Das Schulprogramm und das pädagogische Konzept finden sich detailliert hier:
http://www.grundschule-kleinekielstrasse.de/


In der Diskussion am runden Tisch im Büro der Schulleitung streifen wir dann auch das Thema, Kinder in Deutschland würden „immer dicker“. Warum ist das so? Reflexhaft wird „Fast-Food“ zum Thema. Ein Grund allerdings ist noch viel realistischer: Viele Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr nach draußen. Weil sie Angst haben. Und diese Angst wird bei einem Rundgang durch den Stadtteil deutlich. Einen solchen Rundgang haben übrigens auch die Kinder der Grundschule gemacht. In einem eigenen „Angstecken-Atlas“ ist mit Fotos und eigenen Texten der Kinder dokumentiert, warum (!) sie an vielen Stellen in ihrer Lebenswelt diese Angst entwickeln: Verdreckte Stadtviertel sind ein Teil davon, Junkies auf den Spielplätzen ein anderer, der enorme Zuzug vieler bulgarischer Menschen aus dem Elendsviertel Plowdiw ist unübersehbar, der nahegelegene Straßenstrich ist ein weiterer Grund. (Der ist nun am 31.3.2011 mit großer Stimmenmehrheit im Rat der Stadt Dortmund geschlossen worden, ebenso wie der Sperrbezirk auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet wurde.)
http://www.dortmund.de/de/leben_in_dortmund/nachrichtenporta...

Der Besuch der Kleinen Kielstraße hat viele Aspekte gestreift. Ich könnte sehr lange darüber berichten, hier kann es nur einen kleinen Einblick geben. Der Besuch hat mich jedenfalls nicht kalt gelassen. Er zeigt ganz deutlich die Realität und den Alltag vieler Kinder in Deutschland. Eines ist auf jeden Fall hängen geblieben: Wenn Kinder in unserem Land unsere Zukunft sind, dann müssen wir uns als Gesamtgesellschaft noch ein wenig mehr anstrengen, soll diese Zukunft gut gestaltet werden. Dortmund-Nordstadt ist Realität. Ähnliches findet sich in vielen anderen Städten auch. Aber eben nicht nur. Dagegen stehen die vielen guten Konzepte. „Wir haben in Deutschland kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem“, resümiert die Rektorin.


Und in Gedanken greife ich das auf, was in der Schule im alljährlichen Demokratietag eingeübt wird: Die Werte einer Gesellschaft. Dazu gehört, dass die Kinder der „Kleinen Kielstraße“ die ersten Artikel des Grundgesetzes kennen und erklären können. In Artikel 3, Absatz 1 steht: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ In Absatz 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ An diesem Tag eint uns die Frage; Was wäre wohl aus uns geworden, wären wir in diesem Stadtviertel groß geworden?

Dienstag, 5. April 2011

Kriterien der Bewertung fehlen - lange Gesichter reichen nicht

Entschuldigung, aber ich muss nochmal auf den Gütersloher Bürgerhaushalt zurückkommen. 
Bevor ich hier eine abschließende Bewertung anfertigen kann, fehlt mir eines: Die Bürgerschaft hat sich dazu noch nicht geäußert - und es hat sie auch keiner wirklich gefragt.

Es fehlt daher streng genommen am Ende eine Abstimmung auf der Plattform selbst, ob sich der Bürgerhaushalt bezahlt gemacht hat. Nicht nur in Fragen des Sparens. Nicht nur in Fragen des Vorschlagswesens. Sondern auch in Fragen der direkten Beteiligungsmöglichkeit. 

Bisher sind stereotyp nur die Adressaten befragt, ob sie "zufrieden" sind: Also diejenigen, die am Ende das Produkt entgegengenommen haben: Die Politik. Aber ist das nicht ein Witz? Wir stehen hier mit der Online-Plattform einem fakultativ beratenden Instrument gegenüber, welches keinerlei Verbindlichkeiten für die Politik enthalten hat. Der Bürgerhaushalt ist durch den Druck der Straße erstritten worden. Wir erinnern uns. Streng genommen müssten die Gewählten einfach nur aushalten, um dann am Ende das Experiment negativ zu bewerten - und anschließend zur traditionellen Politikgestaltung zurückkehren zu können. Eine Definition von "Zufrieden/Unzufrieden" ist bisher nicht aufgestellt worden. Die Abwertung der Beteiligungsquote sowie die Reduktion der Mängel auf Anonymität stehen als Alibi für die Exitstrategie.

Richtig wäre es gewesen, alle drei Beteiligten zu Wort kommen zu lassen: Stadtverwaltung, Politik, Bürgerschaft. Diese Chance ist vertan. In der Öffentlichkeit haben sich die Gewählten geäußert: Zeitung, Stadtmagazin, Gütersloh TV. Die einen haben dabei mehr, die anderen haben weniger berichtet. Und recherchiert. 

Am Ende aber fehlt eine an Kriterien orientierte Bewertung des Verfahrens.

Was lernen wir daraus? Kriterien aufstellen! Und das für die nächste Runde gleich auch mitdenken. Damit allen von Anfang an deutlich ist: Auch am Ende steht die Meinung aller. Die durchaus messbar ist. Wenn man denn will. Lange Gesichter alleine reichen nicht.