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Donnerstag, 16. Dezember 2010

25 Jahre Ratsarbeit - Ein Rückblick der Ehemaligen

"Sind Sie nicht der Bürgerhaushalt?"
Heute war ich auf dem Markt. Kolbeplatz. Alles eingeschneit. Die Gemüsehändler waren hinter dicken durchsichtigen Plastikplanen verschwunden, man musste erst den Eingang suchen, um zum Obst zu gelangen. Gerade hatte ich meine Mandarinen eingesackt, da sprach mich ein älterer Herr an, mit Hut und in grauem Mantel. "Hallo, Sie sind doch der Bürgerhaushalt, oder?", fragte er mich direkt. Ich war erstaunt, denn ich trug immerhin eine dicke Wintermütze und einen Schal um den Hals, ein Erkennen war also nicht so leicht. Meine Antwort kam zögerlich: "Nein und auch ein bischen Ja", setzte ich an. "Mein Name ist allerdings nicht Bürgerhaushalt, ich wirke aber schon in der Initiative "Demokratie wagen" mit - wenn Sie das meinen" versuchte ich zu differenzieren. Mein Gegenüber erschien mit ein wenig angriffslustig, da wollte ich erstmal in Deckung gehen... "Na ja", fing er an und entspannte sich, "man kann das ja gut finden, mit der Beteiligung, jetzt wo doch alle auf die Straße gehen. Aber was erhoffen Sie sich eigentlich davon. Am Ende machen die Politiker doch eh, was sie wollen. Die Gütersloher Ratsherren sind doch schon so lange im Amt, die kümmert es nicht mehr, was wir Bürger wollen...." Tja. Da hatte er ja nun mein Leib- und Magenthema angesprochen. Und ich antwortete mit unserer Studie zur Gütersloher Ratspolitik von 2009:

Befragung der Ehemaligen aus den Räten 
Im gelegentlichen Austausch mit anderen Ehemaligen aus der Politik, die man ab und zu  auf der Straße traf, war 2009 die Überlegung entstanden, einmal die Ehemaligen Ratsmitglieder aus Gütersloh nach ihren Erfahrungen zu befragen. Nach unserem eigenen Abschied als Ratsfrau in Funktion einer Fraktionsvorsitzenden der Grünen und Jürgen Zimmermann als Ratsherr in den ersten Anfängen der Grünen in den Räten wollten wir unsere eigenen Überlegungen dazu als alleinige Erklärung nicht gelten lassen: So schickten wir 162 ehemaligen Ratsleuten und sachkundigen BürgerInnen, die zwischen 1984 und 2009 ein politisches Mandat in Gütersloh ausgeübt hatten, überparteilich einen Fragebogen zu ihrem politischen Werdegang und zur persönlichen Einschätzung von Kommunalpolitik während ihrer aktiven Phase. Wir wollten vor allem wissen, welchen Erfahrungsschatz ausgestiegene Mandatsträger an die nachfolgende Politikgeneration weitergeben könnten – wenn dieses Wissen denn je abgefragt würde. Und natürlich suchten wir Antworten auf die Ur-Frage, was genau dazu führt, ein kommunalpolitisches Mandat auch wieder aufzugeben und ob eine Chance besteht, dieses Potenzial an Kenntnis für die Rats- und Ausschussarbeit zurückzugewinnen.

Warum wir Ex-Politiker befragten? Betrachtet man das System aus der Ferne, so dachten wir, würden die Insider sicher reflektierter antworten können als zur aktiven Zeit, in der man noch im politischen Tagesgeschäft zwischen Radwegeausbau und Gewerbesteuern gefangen war. Wir wurden nicht enttäuscht: Jeder Vierte von uns Angeschriebene, sendete einen umfangreichen Antwortkatalog zurück.

Warum steigt man aus der Ratsarbeit aus?
Die häufigsten Gründe für den Ausstieg zeichneten sich sehr deutlich ab. Eine starre Parteiräson und Fraktionszwang, fehlende Bürgerbeteiligung und mangelnde Transparenz innerhalb politischer Entscheidungswege führten die Liste an. Als Gegenstrategien wurden insbesondere den Parteien ins Stammbuch geschrieben: Eine stärkere Öffnung der Parteiarbeit für Nicht-Parteimitglieder und mehr Mitwirkungsmöglichkeiten für Parteilose im Rahmen eines Projektes sowie eine größere Sachorientierung contra Fraktionszwang. Mit Nachdruck wurde eine fachliche und persönliche Qualifizierung des politischen Personals sowie ein lokales Mentoring, mit Einsatz von „Medizinmännern“ angemahnt. Wünschenswert war – und das liegt in der Natur der Sache: Rückspiegelung von Erfahrungen bei Ausscheiden aus dem Mandat.

Als Gegenentwurf wurde die Etablierung öffentlich-strategischer Räume für sachorientiertes, interfraktionelles Arbeiten sowie die Weiterentwicklung des operativen Geschäfts der Ratsarbeit analog moderner Teamarbeit, Sachkompetenz und Lösungsorientierung gewünscht. Eine deutliche Mehrheit (59 Prozent) glaubte übrigens, der Rat werde seiner wichtigsten Aufgabe, nämlich die Verwaltung zu kontrollieren oder zu führen, nicht gerecht.

Ratsarbeit kann auch wehtun!
Erstaunlich offen formulierten die Befragten auch ihre ganz persölichen Beweggründe: Die Liste der „weichen“ Faktoren beginnt mit der fehlenden Menschlichkeit in der politischen Arbeit gefolgt vom Bemänglen grober, politischer Auseinandersetzungen und immer wieder auftauchend: zu viel Selbstdarstellung des politischen Personals. Das schien eine erste Antwort zu sein darauf, dass viele Ex-Ratsleute sehr viel mehr Blessuren nach den Sitzungen mit nach Hause nahmen als in den Gremien sichtbar war. Die Erinnerung an zahllose Angriffe der politischen Gegenseite war auch bei uns präsent. Zornige Ratsherren, die uns Grüne schon deshalb angifteten, nur weil wir „Grüne“ waren. Hinter den Kullissen hörten wir oft mildere Worte: „Euer Antrag war klug, aber man kann doch den Grünen nicht öffentlich zustimmen.“ Das ist realpolitisch Jahre her, aber die Verunglimpfungen hatten deutlich Spuren hinterlassen: Ein Gefühl, das parteiübergreifend gleich formuliert wurde, also offenbar nicht nur uns Grüne ins Mark getroffen hatte. Es erstaunt also nicht, dass die Wertschätzung für die geleistete Arbeit allen Befragten viel wichtiger war als eine höhere Aufwandsentschädigung. Auf dem Wunschzettel stand dann auch: Ausbildung einer wertschätzenden Gremienkultur.

Demokratie steht eigentlich hoch im Kurs
Überparteilich betont wurde, dass es die politische Kultur und die Kommunalpolitik generell aufzuwerten gilt. Die Studie bündelt immerhin 25 Jahre politischen Einsatz in einer Mittelstadt - keiner der Befragten blickte zurück im Zorn. Im Gegenteil: Die frühzeitige Schärfung des Demokratiebewusstseins durch kommunale „Demokratie-Paten“ schon in Kindergärten und Schulen, lag vielen am Herzen.

Befragt danach, was generell zu einer größeren demokratischen Teilhabe führen könne, sprach sich die Mehrheit überdeutlich für eine verstärkte direkte Bürgerbeteiligung aus. Aus eigenem Erleben kennen wir: Politiker agieren oftmals in einer Wagenburgmentalität, nähern sich sogar sprachlich einander an und leben in einem eigenen Kosmos von Sitzungen und Vorlagen. Im Laufe einer Hauptausschusssitzung bat ich damals darum, den anwesenden Bürgern in einer Angelegenheit ein kurzes Rederecht einzuräumen. Der Antrag wurde vehement von allen Gewählten abgelehnt – die Presse berichtete später davon als „Angst vor dem Bürgerkontakt“. Es überrascht (nicht), dass die Befragten gerne das Wahlrecht NRW geändert sähen, und zwar durch „Kumulieren“ und „Panaschieren“.

Eine stärkere Beteiligung junger Menschen werde in erster Linie durch das Ernstnehmen junger Menschen erreicht, hier solle das Jugendparlament durch effiziente Partizipation gestärkt werden. Eine stärkere Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund sei nur durch bessere persönliche Kontaktpflege und Einbindung möglich. Das wichtigste kommunalpolitische Thema heute ist für die Mehrheit der Befragten die „Bildungspolitik“, gefolgt von „Haushalt/Schuldenabbau“ und „Stadtplanung“. (Wie gut hier der Bürgerhaushalt nun ins politische Geschehen passt, denke ich heute.)

Ein Leben nach der Politik
Nach der aktiven Phase in der Kommunalpolitik erfolgte übrigens zu 68 Prozent eine aktive Phase in einer anderen Form des Ehrenamtes. Die große Mehrheit der Befragten würde dabei nicht nocheinmal ein Mandat übernehmen - nur wenige würden sich dazu nochmals bitten lassen. Das Ehrenamt in anderen Bereichen biete mehr Wertschätzung, Raum für persönliche Freiheit und mehr konkrete Gestaltungsmöglichkeiten.
Deutlich ist: Der Wissenstransfer nach dem Ausscheiden ist ein Knackpunkt. Die gewonnen Kenntnisse werden selten in die Parteien zurückgespiegelt. Wer fragt schon gerne Ex-Politiker um Rat? Viele mühsam errungene Erfahrungen gehen damit ungenutzt verloren. So können aus Wissen und Fehlern keine Lerneffekte und Effizienzsteigerungen für die zukünftige Ratsarbeit erzielt werden. Jeder neue Einstieg in die Ratsarbeit bedeutet daher für Gewählte einen Sprung ins kalte Wasser – mit unbestimmten (Er)-Folgen.

Einsatz fürs Gemeinwohl
Parteien, Fraktionen und Wählergemeinschaften stehen vor dem Problem, auch in Zukunft Aktive für ein Ehrenamt in der K-Politik gewinnen zu müssen. Ist das Image der Kommunalpolitik auch stark angekratzt, so stehen die Zeichen für ein politisches Ehrenamt dennoch günstig: Untersuchungen belegen die hohe Bereitschaft der Bevölkerung, sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Laut Studie war es vor allem der politische Zeitgeist, der Menschen vom reinen Interesse zum aktiven politischen Handeln motiviert hat. Gerade Zeiten des Wandels wie diese der Post-Krise (?) bieten dazu zahlreiche Themen. Es liegt nun am Politik- und Parteienbetrieb, aktiv zu sein und Mit-Menschen für die politische Interessenvertretung (wieder) zu gewinnen.

Die Kommune kann immer nur so gut sein, wie ihre Politikerinnen und Politiker es sind. Auch wenn das für die Beteiligten einem Spagat zwischen Lust und Frust gleichkommt. Bei uns ist die Lust an der Politik geblieben, allerdings in anderen Formaten. Dazu gehört heute der Bürgerhaushalt, der ein eigenes Sprachrohr für die Bürgerschaft darstellen kann. Das Internet ist zudem genau das richtige Instrument dafür. 


Mein Gesprächspartner nickt. "Dann will ich hoffen, dass sich die Politik die Ergebnisse zu Herzen nimmt", brummt er. "Ich hoffe das, genau wie Sie", antworte ich und trage meine Mandarinen nach Hause.

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