Es begab sich aber zu der Zeit, als die Natur noch grün war. Die Bäume auf unserer Wiese sind zu groß für ein Wohnzimmer. Acht Meter. Schon im Sommer hegen wir die Idee, einen der herrlichen Tannenbäume auf der West-Wiese der Kirche zu Weihnachten anzubieten. Eine der Prachttannen würde sich im Altarraum sicher gut machen. Alle Jahre wieder. Es sollte nicht irgendeine Kirche sein, sondern die Lukasgemeinde. Dort tauchen wir immer mal wieder gerne im sonntäglichen Gottesdienst auf, weil der junge Pastor mit den engelsgleichen Haaren so politisch ist.
Als der November seine letzten Tage fristet, rufen wir besagten Geistlichen an. Herr Pastor könne sich eine Tanne zu Weihnachten für seine Kirche aussuchen. Acht Meter, der Baum. Die Antwort des Gottesmannes am anderen Ende der Leitung ist ein klares Ja... Aber. Sein „aber“ setzt eine echte Weihnachtsbaum-geschichte in Gang. Generell nehmen wir die Tanne gerne, so der Gemeindehirte. Nun sei es so, dass ja die Kirche sparen müsse. Daher wüssten wir sicher, dass die Gemeinden zusammengelegt wären. Mit dem Ergebnis, dass es nun zwei Pastöre gäbe. Dieses Jahr sei „der Andere“ dran, mit Weihnachten und der Begrünung. Und die Gemeinde Lukas habe auch einen eigenen Tannenbaumbeauftragten. Der müsse befragt werden. Und selbstverständlich eingebunden. Der für das Jahresendgrün Auserwählte würde sich melden, versprach der Doppelspitzenpfarrer. Mit Erstaunen auf eine derart organisierte himmlische Schar gestoßen zu sein, legt mein Mann auf. Weiteres wollten wir abwarten. Der Baum stand ja noch im Saft. Du grünst nicht nur zur Sommerzeit, nein auch im Winter, wenn es schneit.
Tage später klingelt das Telefon. Wieder nimmt mein Mann den Hörer ab und ist mit einem Herrn verbunden, der sich als Tannenbaumbeauftragter der Gemeinde Lukas vorstellt und erst in einem zweiten Atemzug seinen Namen nennt, den J. aber gleich wieder vergisst. Tannenbaum ist unser Stichwort, wie oft hat nicht zur Weihnachtszeit ein Baum von dir mich hoch erfreut. Mein Gatte sieht sich schon mit Säge und Axt in Aktion. Doch vor jeden Schweiß hat der Herrgott die Gemeindedemokratie geschaltet. Herr Tannenbaumbeauftragter-der-Gemeinde-Lukas verkündet, er müsse sich den zum Geschenk vorgeschlagenen Baum zunächst einmal anschauen. Aber nicht allein. Sie kämen zu dritt, spricht er weiter und erklärt, wen er da mitzubringen gedenke. Vom Himmel hoch, da komm ich her. Das Wort Küsterin bleibt hängen, diese kennt sicher die geschätzte Höhe des Kirchenschiffes und das Maß des Baumes. Und Kaiser Augustus befahl, dass alle Welt sich schätzen ließe. Wir schmunzeln über die Zahl drei: Drei Weise aus dem Morgenlande. Das passte doch zu Weihnachten. Wir verabreden sich für den folgenden Tag. Um drei. Auf dem Hof. Die Bäume warten, bald ist Weihnachtsabend da.
Die Uhr schlägt dreimal. Unser Sohn sieht den weißen Wagen der Weisen auf den Hof fahren. Freundlicherweise nimmt er die Kirchenleute in Empfang und zeigt ihnen schon mal den Weg auf die Wiese. Diese Minuten nutze ich, um meine Gummistiefel anzuziehen und meine Arbeitsjacke. So bin ich eine passable Vertretung für meinen Holzfäller-Gatten, der noch nicht zurück ist. Wir treffen am Holzgatter aufeinander: die drei Tannenbaum-Experten-der-Lukas-Gemeinde, zwei Damen und ein Herr – letzterer wohl hauptamtlicher Tannenbaumbeauftragte – und ich. Wir schütteln uns die Hände. Die drei Reisenden aus dem Matthäusland sind durchdrungen von der Bedeutung ihrer Entsendung. Durch der Engel Halleluja tönt es laut von fern und nah.
Wir steigen über das Gatter, macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Meine Stiefel leisten ihren Dienst. Die drei Weisen sacken mit ihren Halbschuhen tief ins nasse Grün. Die ältere Dame im aparten Arrangement in rosa übernimmt und eröffnet die Konversation. Ich bring Euch gute, neue Mär. Was für ein schöner Fleck Erde, spricht sie und kommt gleich zur Sache. Mein Pastor betont sie das Possesivpronomen, hat mich beauftragt, nicht nur einen Baum auszusuchen. Er bittet auch um das Restgrün für die Krippe, lässt sie mich wissen. Da liegt es das Kindlein auf Heu und auf Stroh. Sie sei ja Presbyterin der Gemeinde. Freue Dich, oh Christenheit. Was die Pastöre heute alles so wollten, führt sie weiter aus. Jeder hätte so seine eigene Vorstellung. Christ ist erschienen, uns zu versühnen. Aha, antworte ich.
Die Dame Ohne-Rosa stolpert über die jungen Setzlinge, die sich im Gras versteckt haben und erst noch wachsen müssen. Alle sechs Augen der drei Weisen sind auf die großen Prachttannen am Ende der Umzäunung gerichtet. Auf diese zeige ich mit einer Handbewegung wie ein Bergführer auf eine Gipfelkette. Stattlich stehen sie da in Reihe und Glied: Blautannen, Nordmanntannen, Waldtannen. Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum wie grün sind deine Blätter. Dicht drängen sich die Äste und eifern mit ihrem Grün um die Wetter als diese erste echte Begegnung zwischen Kirche und Baum stattfindet. Gnadenbringende Weihnachtszeit.
Vier Meter Fünfzig ist das Maß für den Christbaum. Vier Meter fünfzig von der Spitze bis zum Fuß. Das sind drei Meter fünfzig weniger als die Tanne in echt groß ist. Man kann sie höher abschneiden, beruhige ich die Rechnerei der drei Experten. Die Aufmerksamkeit auf diese echten Tannen währt nur einen Augenblick. Frau Rosa hat die weiche Omorika-Fichte entdeckt. Die Zarte. Sie steht ein wenig abseits vor den anderen Tannengehölzen. Auch sie ist acht Meter. Die soll es sein, verkündet der rosa Engel der Lukasgemeinde. Wir übrigen drehen uns um. Erstaunt. Für einen Augenblick bin ich unsicher, ob mein Mann auch diesen Baum zum Schlagen freigegeben hat. Oh du fröhliche. Die drei umwandern die serbische Fichte, streicheln ihre weichen Tannenwedel. Kein Zweifel. Tanne, die Entscheidung ist da, heißa, dann ist Weihnachtstag. Vier Meter fünfzig. Das müsste passen, erklärt die Dame in Nicht-Rosa. Die Frauen sind sich einig. Der mitgebrachte Tannenbaumbeauftragte kann sich dem Diktum der Damen nicht widersetzen. Vier Meter fünfzig bestätigt auch er. Partizipation in der Kirche ist weiblich.
Auf dem Weg zurück plaudert Frau-Presbyterin-neben-dem-Pastor mit mir über Weihnachten. Und zählt ihre geplanten Kirchgänge in Reihenfolge der Feiertage auf. Neben ihr wirke ich wie ein lauer Christ, mit meinem Status des Selten-Gängers. Am Ende werde ich gefragt, was denn der Baum kosten soll. Nix, lautet die Antwort. In den Herzen ist´s warm, still schweigt Kummer und Harm, Sorge des Lebens verhallt.
Den Baum in seiner ganzen Pracht abholen soll derweil ein anderes Gemeindemitglied. Dieser Mensch ist wiederum eigens für den Transport des Christbaums zuständig. Der Tannenbaumtransportbeauftragte. Und der dieses Jahr zuständige Doppelspitzenpastor auch. Wann das sein wird, solle telefonisch geklärt werden. Einmal werden wir noch wach.
Die Tage vergehen, wir versuchen Pastor Weihnachtsgrün zu erreichen. Pastor Weihnachtsgrün versucht es umgekehrt. Unsere elektronischen Anrufbeantworter lernen sich dadurch etwas besser kennen. Beide hinterlassen dem jeweils Anderen ihre Nachricht nebst der Versicherung, es später nochmals zu versuchen. Bei Anruf Nummer drei klappt es: Kirche trifft Spender. Am Samstag früh um zehn wollen sich Pastor und der zuständige Transportbeauftragte an nun schon bekannter Wiese einfinden.
An besagtem Tag liegt eine dicke Schneedecke über der gefrorenen Wiese. Leise rieselt der Schnee, still und starr ruht der See. Beim Morgengrauen stapfe ich mit meinem Mann über die Winterpracht und zeige ihm nochmals die serbische Omorika. Ein rotes Flatterband ist schon angebracht, damit nicht der falsche Baum in die Kirche gelangt. Die Säge röhrt und mit drei gekonnten Schnitten gleitet die Fichte zur Seite. Hilflos liegt sie im Schnee. Mit so viel Liebe und Frieden ist sie aufgewachsen. Möge sie gleiches in die Welt tragen, denken wir uns. Bald wird das Prachtgewächs geschmückt den Altarraum zieren. Wir warten auf die Kirchenleute. Der Transportbeauftragte trifft ein. Nein, er ist nicht mit einem Schlitten und Rentieren gekommen. Er hat einen winzig anmutenden Anhänger an seinem Auto mitgebracht. Auf diesem soll die Vierfünfziger-Fichte ins Lukasland gefahren werden. Beim Anblick der Omorika ist der gute Mann verwirrt. Die Tanne sei drei Meter lang, so hieß es, darum der kurze Hänger. Chor der Engel erwacht. Man könne den Baum kürzen. Nein, nein. Wir versuchen es mal. Flink fällt dann doch ein ganzer Meter Holz in den Schnee. Die Fichte auf ein neues Maß gebracht. ...der Retter ist da. Nun sind es nicht vier Meter fünfzig, die gebraucht werden, sondern vier Meter fünfzig, die wegfallen. Wahre Größe steckt im Kern.
Der Anhänger mit himmlischem Auftrag ist von einer festen Plane umhüllt. Mit Stangen stabilisiert. Die Omorika-Schöne geht hier nie und nimmer rein, mein Mann - sagt nichts. Der Pastor Weihnachtsgrün fehlt. Partizipation ohne Obrigkeit. Die beiden Gegenwärtigen beginnen den Transport allein. Erste Hürde ist der Weidezaun. Drei Meter fünfzig Festholz mit Nadeln und Schnee sind eine Herausforderung für jeden Weihnachtsmann. Ächzend zieht und schiebt das Duo den Christbaum in spe bis kurz vors Ziel. Hört nur, wie lieblich es schallt. Dann erscheint der Pastor. Im Sonntagsstaat, mit passablen Gartenhandschuhen. Ein Seil fehlt, die ausladenden Ästen wären gebunden hilfreicher. Mein Mann hilft. Leider mag die grüne Serbin wahrlich nicht ganz in den Hänger passen. Die nun drei Männer schieben und pressen, dabei verschwinden die zwei Lukas-Weihnachtsbaum-Beauftragten-Gemeindemitglieder mit ihren Halbschuhen im Schnee. Wie eine Erleuchtung fällt dem Transportbeauftragten der Gemeinde ein, das Gestänge nebst Plane abzuschrauben... Erleichterung hält Einzug. Zentimeter für Zentimeter naht der Weihnachtsbaumspender dem Ziel, seine Spende den waltenden Händen der Kirche übergeben zu haben. O beugt wie die Hirten anbetend die Knie, erhebet die Händlein und danket wie sie. Schließlich ist der Lichterbaum gut verstaut. Auch an das Krippengrün ist gedacht. Macht mir auf das Stübchen.
Nun aber umkreisen tausende kleiner grüner Omorika-Äste den Hänger. Abgebrochen vom jungfräulichen Lukas-Christbaum liegen sie im dicken Winterweiß. Besorgt malt sich mein Angetrauter aus, wie zerrupft die Gute in der Gemeinde ankommen mag und hofft auf ein Wunder. Ist auch mir zur Seite still und unerkannt. Schließlich fehlt es an einer roten Fahne, die das Ende der Omorika im kirchendienstlichen Hänger signalisieren sollte. Immerhin ragt die Spitze nun doch gut einen Meter und etwas über die Reeling hinaus. Auch dieses Utensil können wir stellen. Am Ende muss der Geistliche hinter dem Christbaumtransport das Geleit geben und bei möglichen Pannen das Schlimmste mit Hilfe der himmlischen Mächte verhindern. Bleibt nur noch, den Hängeraufsatz später wieder einzuladen, der bis dahin einsam und wie eine Weihnachtskugel rot leuchtend in der Hofzufahrt verweilt und auf den Rückhol-Beauftragten der Kirche wartet. Partizipation bedeutet Hiob mit verteilten Rollen.
Wir verabschieden uns vom Trio - zwei Männer mit Baum. Wir bleiben derweil mit dem Hängergestänge und den schlimmsten Befürchtungen zurück: Nach einem Auffahrunfall mit Blechschaden bei Glatteis in der Kirche angekommen, passt der Baum nicht durch die Tür. Er wird gekürzt, weil er nicht um die Ecke geht. Nun misst die Fichte nur noch zwei Meter fünfzig. Zwei Köpfe größer als der Pastor. Nadeln und Ästchen säumen den Weg. ...wie grün sind deine Blätter. Beim Einstielen in den Weihnachtsbaumständer kippt der Baum, die Spitze kracht auf den Altar, ist unwiederruflich abgeknickt. Von den einstmals acht bleiben noch zwei Meter. Pastor und Baum nähern sich in der Höhe an. Ramponiert sieht das Bäumchen bemitleidenswert aus. Der Verlust macht ihn fast durchsichtig. Der Stamm rückt in den Blickpunkt. Da können auch die bunten Kugeln und der Stern als Krone nichts mehr ändern. Die einst schönste Fichte passt nun in die Ecke - vor dem Engel des Erbarmens – fehlt nur, dass ein Zweig beim Entzünden der Kerzen noch Feuer fängt und schließlich kaum ein Stummel von einem halben Meter Restgehölz auf einem Hocker steht, damit die Gemeinde das Bäumchen überhaupt sehen kann ...da uns schlägt die rettende Stund.
Aber nein. So endet die Geschichte nicht. Mit Mühe zwar landet die Fichte zunächst im Eingangsbereich der Gemeinde. Es ist nicht schlimm, dass der Chor nun nicht mehr in die Kirche rüberwechseln kann, weil die schöne Grüne mitten im Weg liegt und weder links noch rechts ein Vorbeikommen möglich macht. Gerne nimmt man beim Anblick der weichen Äste einen Umweg in Kauf. Nach dem Gottesdienst wird sie geschmückt. Hierfür sind eigens Christbaumdekorationsbeauftragte ernannt: einer für die Kugeln, eine für die Kerzen; die Restgemeinde fürs Lametta. Wie weich sind die Zweige! Die vormals schlicht-grüne Fichte erstrahlt in wahrem Glanz. Stille Nacht, heilige Nacht.
Am Heiligen Abend erscheint die Gemeinde, eine Schnittmenge von Beauftragten mit Weihnachstspezialeinsätzen und dem Rest der Gläubigen, erfürchtig zum Kirchgang. Pastor Weihnachtsgrün steht im Talar am Altar – gerade rechtzeitig zurück von einem Dankbesuch bei uns auf dem Hof: Nun kann die Gemeinde getrost sich zum Baume wenden. Ihr Kinderlein kommet. Was für ein Leuchten, was für eine Freude. Weihnachten ist da. Die Spitze der ehemals Acht-Meter-Omorika lenkt den Blick der Christenschar in den hohen, leeren Raum des Kirchenschiffes. Ein Ort, sonst verlassen und unbeachtet, wo sich nur die Klänge der Orgel sammeln und die Gebete sich bündeln. Die Fichte hat ihn trotz fehlender Höhe erreicht mit ihrer Liebe und ihrem Frieden. Ehre sei Gott in der Höh´. Himmlische Heere jauchzen Gott Ehre: Freue, freue dich, o Christenheit!
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